„Aber ebenso ist es richtig, daß wir ein Volksheer hatten, daß der Mann zum Kriegsdienst gezwungen war, daß er nicht gefragt wurde, ob er gerne in den Krieg geht und man mußte daher darauf gefaßt sein, daß die Leute flüchten wollten und den Ärzten ist so etwas wie die Rolle von Maschinengewehren hinter der Front zugefallen, die Rolle, die Flüchtigen zurückzutreiben.“ (Sigmund Freud: Gutachten über die elektrische Behandlung der Kriegsneurotiker vom 14.10.1920, zit. n. Riedesser/Verderber, S. 64)
Das Zitat von Siegmund Freud verdeutlicht das Dilemma, in welcher sich Mediziner im Ersten Weltkrieg befanden. Einerseits waren sie durch den hippokratischen Eid dazu verpflichtet, ihre Patienten nach bestem Wissen zu versorgen und Schaden von ihnen abzuhalten. Andererseits erforderten die Materialschlachten des Ersten Weltkrieges auch den Einsatz vom immer mehr Soldaten und dementsprechend drängten die Heeresführungen der beteiligten Staaten auf die schnellstmögliche Heilung von Verwundeten. Vor einer besonderen Herausforderung stand in diesem Zusammenhang der medizinische Zweig der Psychatrie. Denn neben den physischen Verwundungen, welche die Soldaten im Ersten Weltkrieg erlitten, traten zunehmend auch psychische Erkrankungen auf. Gerade an der Westfront, wo die Soldaten stunden- oder tagelang hilflos feindlichem Artilleriefeuer ausgesetzt waren, häuften sich die Fälle der psychisch kranken Soldaten. Als häufigstes Symptom traten Zitteranfälle am ganzen Körper oder einzelnen Gliedmaßen auf (Quelle 1), weshalb im deutschsprachigen Raum sich der Begriff der Kriegszitterer verbreitete. Das deutsche Psychatriewesen war mit der Zahl der Kriegszitterer überfordert. Alleine eine Diagnose zu stellen, erwies sich als schwierig, was sich an den unterschiedlichen Benennungen für psychische Erkrankungen festmachen lässt. Neben den Begriff des Kriegszitterers, traten Kriegsneurotiker und Kriegshysteriker beziehungsweise im englischsprachigen Raum shell-shock Patienten (Quelle 2). Erschwerend kam hinzu, dass nicht nur Zittern als Symptom feststellbar war, sondern auch Verstummen, Ertauben, (temporäres) Erblinden und viele weitere Symptome (Quelle 3). Eine genaue Zahl der Kriegszitterer lässt sich aufgrund der unterschiedlichen Diagnosen und der schwierigen Quellenlage nicht feststellen. Schätzungen gehen jedoch für das Deutsche Reich von etwa 200.000 Fällen aus.Max Nonne suggeriert einem traumatisierten Soldaten unter Hypnose, nicht zittern zu müssen
(Ausschnitte aus einem Lehrfilm von 1917, Deutsches Ärzteblatt 2012, H. 9, S. 407)
Felix Ruppricht, Dresden 2015
Literatur- Wolfgang U. Eckert: Medizin und Krieg. Deutschland 1914 – 1924, Paderborn 2014.
- Fiona Reid: War Psychiatry, in: 1914-1918-online. International Encyclopedia of the First World War, URL: http://encyclopedia.1914-1918-online.net/article/war_psychiatry/2014-10-08, letzter Zugriff: 22.01.2014.
- Peter Riedesser und Axel Verderber: „Maschinengewehre hinter der Front“. Zur Geschichte der deutschen Militärpsychiatrie, 2. Aufl. Frankfurt am Main 2004.