Der Soldat an der Westfront – Militärpsychiatrie
Quelle 5: Diskurs in der Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie
Die Kaufmann-Methode wurde während des Krieges vielfach aufgegriffen und abgewandelt. Exemplarisch wurden in folgenden Fällen Patienten mit Sprachstörungen behandelt, welche auf ein psychisches Trauma zurückzuführen waren. Der behandelnde Arzt Robert Hirschfeld entwickelte die Kaufmann-Methode weiter und unterstellte seinen Patienten Simulantentum.
„Als sehr wertvolles Hilfsmittel ist bei diesen Kranken die militärische Disziplin anzusehen und der Zwang, sich die Behandlung gefallen lassen zu müssen. In den Fällen schwerer Aphonie, die bisher jeder Behandlung getrotzt haben, wurde ein anderes Verfahren angewandt, das [...] stets zur schnellen Heilung führte: Es wurde dem Kranken mitgeteilt, daß ein Eingriff nötig sei, um ihm die Sprache wiederzugeben. Zu diesem Zwecke müßten sie eingeschläfert werden, damit sie keine Schmerzen spürten. Auf alle Fälle würden sie, wenn sie wieder erwachten, im Besitz ihrer Sprache sein. [...] Versuche, im Exzitationsstadium auf sie einzuwirken, mißlangen sämtlich. Auffällig war überhaupt der geringe Grad der Exzitation bei der Narkose. Nach Schwinden der Cornealreflexe wurde die Narkose ausgesetzt und gewartet, bis die Kranken die ersten Zeichen gaben, daß man sich mit ihnen in Konnex setzen könne. Sogleich wurden starke faradische Reize auf die Ohrmuscheln und die Nasenschleimhaut angewandt und den Kranken immer von neuem auf äußerst energische Weise mitgeteilt, sie könnten jetzt reden, sie hätten in der Narkose laut gesprochen. Bei der Mehrzahl erfolgte sofortige schnelle Heilung. [...] Sobald die Kranken phonierten, mußten sie ständig Gedichte aufsagen und zählen, bis sie bei vollständigen Bewußtsein waren. Trat wieder ein Nachlassen in der Phonation ein, erfolgten sofort sehr energische faradische Reize. Zugleich wurden sie darauf hingewiesen, daß sie laut gesprochen hätten, daß ein Leisesprechen jetzt nur eine üble Angewohnheit oder böser Wille wäre, der bestraft werden würde. Sämtliche Kranken hatten nachher Amnesie für den therapeutischen Eingriff, wußten weder, daß sie elektrisiert waren, noch, was mit ihnen gesprochen worden war. Es wurde ihnen auch nicht mitgeteilt. [...] Überhaupt scheint es, als ob leichte Störungen, die dem Kranken weder beruflich noch sozial besonders hinderlich sind, wohl aber die Frontdienstfähigkeit in Frage stellen, liebevoller festgehalten werden.“ Robert Hirschfeld: Zur Behandlung im Krieg erworbener hysterischer Zustände, insbesondere von Sprachstörungen, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 34 (1916), H. 1, S. 195-205, hier S. 200f.Einen weiteren Einblick über die medizinische Sicht auf Kriegsneurosen gibt der Vortrag von Robert Gaupp, Leiter der Universitätsnervenklinik in Tübingen, aus dem Jahr 1916 auf der gemeinsamen Kriegstagung der Gesellschaft deutscher Nervenärzte und des Vereins für Psychiatrie. „Die Zahl der Kriegsneurosen ist im Vergleich zur Gesamtzahl unseres Heeres gering, in ihrer absoluten Höhe aber doch nicht unbeträchtlich. [...] Im österreichischen Völkergemisch glaubt Pilcz beobachtet zu haben, daß der Slawe anfälliger ist als der Deutsche. Die Häufigkeit der polnischen Hysterie ist mir schon aus meiner Friedenserfahrung früherer Jahre bekannt. Ob der Romane leichter neurotisch wird als der Germane, werden wir erst nach Friedensschluß übersehen.“
„Wir kommen damit zum vielleicht wichtigsten Streitpunkt in der Lehre von den Kriegsneurosen: zur Frage nach der Bedeutung der krankhaften Anlage. Ist es auch für den psychiatrisch geschulten Arzt, dem bei der Analyse krankhafter Seelenzustände Erfahrung und Begabung zur Seite stehen, gar kein Zweifel, daß weitaus die meisten im Kriege erkrankten Neurotiker labile und gemütsweiche, oft von Natur ängstliche Psychopathen mit pathologischen Reaktionen auf akute und chronische Gemütsbewegungen sind, [...]“
„So lehrt uns also die Erfahrung, die große Bedeutung des Seelenlebens des Soldaten für Entstehung und Verlauf der Störungen, denen er unter der furchtbaren Wucht des modernen Krieges, vor allem unter dem Feuer der schweren Artillerie vereinzelt anheimfällt. Dabei wollen wir nie vergessen: hunderttausendfach mögen in nächster Nähe unserer Krieger Granaten platzen, [...] aber die elastische Natur des gesunden Mannes, der die Notwendigkeit des Aushaltens im Kriege bejaht, rafft sich immer wieder rasch empor und nur ein kleiner Prozentsatz unterliegt und flüchtet sich in die Krankheit.“
„Die Wege der Heilung sind zahlreich. Der Arzt heilt durch seine Persönlichkeit, nicht durch seine Methode. Wieviel von den krankhaften Symptomen auf einmal weggenommen werden kann, haben uns Nonne, Kaufmann und viele andere gezeigt und ich kann dem auch aus eigener Erfahrung beistimmen. Der Arzt muß die Heilmaßnahmen selbst ausführen. Interessante Beobachtungen verbürgen die Heilwirkung des Schreckens bei Symptomen, die der Schreck erzeugt hatte. Die moralische Verurteilung einzelner brüsker Methoden, wie z.B. der von Kaufmann, Rothmann, Jellinek und Muck halte ich nicht für angebracht. Ist die Moral des Arztes bei seinem Vorgehen unanfechtbar, ist er nur vom Willen zu heilen erfüllt, so ist auch jede Methode erlaubt, sofern sie wirklich hilft. Das gilt selbstverständlich auch für die Hypnose, die vom erfahrenen Fachmann ausgeübt wird. […] Die Bedeutung der militärischen Autorität und der disziplinären Gewalt kann nicht bestritten werden.“ Robert Gaupp: Kriegsneurosen, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 34 (1916), H. 1, S. 357-390, hier S. 361f., 367, 383 und 388.
Die bereits dargestellten Behandlungsmethoden wurden teilweise schon während des Krieges kritisiert. Denn Hypnosen, Elektroschocktherapien und Zwangsexerzieren kurierten zwar kurzfristig die Symptome der psychisch kranken Soldaten, konnten aber in den meisten Fällen keine endgültige Heilung herbeiführen. Hier setzten, angelehnt an die Arbeiten Freuds, psychotherapeutische Verfahren ein. „Es ist der Zweck dieser Veröffentlichung, zu zeigen, wie lohnend es sein kann, auch bei Kriegsneurosen Freudsche Gesichtspunkte gelten zu lassen. Die schönen hypnotischen Erfolge Nonnes beweisen durchaus nicht das Gegenteil. Denn einerseits gibt es eine ganze Reihe von Fällen, in denen mit Hypnose nur ein Augenblickerfolg zu erzielen ist und häufig genug nicht einmal dieser. Andererseits sagt selbst die dauernde Beseitigung eines Symptoms in Hypnose an sich nur so viel, daß es nicht organisch bedingt sein konnte und psychisch nicht stärker fixiert war. Daß es im übrigen auf eine ganz andere Weise entstanden sein kann, als es beseitigt wurde, wird wohl niemand ernstlich bestreiten wollen. Können doch auch somatische funktionelle, also nicht hysterische Störungen auf diese Weise beeinflußt werden. Die suggestive Behandlung fragt ja nicht viel nach der besonderen Entstehungsweise eines Symptoms und begnügt sich mit dem symptomatischen Erfolge. Dagegen ist im allgemeinen auch nichts einzuwenden, wenngleich im Interesse der Beständigkeit der Heilung eine mehr ätiologische Behandlung einer bloß symptomatischen vorzuziehen sein dürfte. [...] Ich bediene mich dazu mit Vorliebe des sog[enannten] Frankschen Verfahrens, das mir selbst im Feldlazarett vorzügliche Dienste geleistet hat. Es stellt im wesentlichen nichts anderes dar als eine konsequente Anwendung der ursprünglichen Anschauungen von Breuer und Freud [...]“ Willibald Sauer: Zur Analyse und Behandlung der Kriegsneurosen, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 36 (1917), H. 1, S. 26-45, hier: S. 27f.