Der Soldat an der Westfront – Militärpsychiatrie
Quelle 4: Kaufmann-Methode
Die Behandlung psychisch kranker Soldaten erfolgte oft auf eine – aus heutiger Sicht – grausame Weise, wie folgende Quellenauschnitte belegen. Zu Berühmtheit in der Behandlung der „Kriegszitterer“ gelangte die so genannte Kaufmann-Methode. Das Verfahren fand nach 1915 schnell Verbreitung, wurde aber aufgrund von eintretenden Todesfällen im Verlauf des Krieges zunehmend kritisiert.
„Im Gegensatz zu vielen halte ich es für notwendig, die möglichst prompte, symptomatische Heilung von Kranken mit psychogenen Reiz- und Ausfallerscheinungen herbeizuführen, sobald die akuten Erschöpfungssymptome, die bei dem im Felde Erkrankten so gut wie nie fehlen, sich rückgebildet haben. Denn wenn es auch durchaus richtig ist, dass die Hysterie nicht ‚geheilt‘ ist, sobald die prägnanten Symptome zum Schwinden gebracht sind, so gibt es doch sehr viele Kranke, bei denen die motorischen Symptome die einzig nachweisbare krankhafte Störung bedeuten, während der hysterische Charakter oder sonstige hysterische Stigmata völlig fehlen. [...] Aus der Alltagserfahrung wissen wir, dass die durch einen psychischen Schock aus dem richtigen Geleise gebrachte Innervation sehr häufig durch einen erneuten psychischen Schock wieder in die richtige Bahn zurückgebracht wird. Wir sind nun imstande, bei den Kranken, wie in dem eben angeführten Falle, einen solchen Schock durch Bearbeiten mit einem kräftigen elektrischen Strom künstlich herbeizuführen und denselben unter Zuhilfenahme entsprechender Wortsuggestion in Befehlsform zur Heilung zu verwenden. Unser Vorgehen setzt sich aus 4 Komponenten zusammen:1. suggestive Vorbereitung
2. Anwendung kräftiger Wechselströme unter Zuhilfenahme von reichlicher Wortsuggestion.
3. strengem Innehalten der militärischen Formen unter Benutzung des gegebenen Subordinationsverhältnisses, und Erteilung der Suggestion in Befehlsform.
4. unbeirrbar konsequenter Erzwingung der Heilung in einer Sitzung. ad 1. [...] Man muss dem Kranken gegenüber schon während der Vorbereitungstage betonen, dass die Behandlung zwar schmerzhaft ist, dass er aber durch den Strom in einer Sitzung sicher und dauernd geheilt wird.
ad 2. Ein psychischer Schock kann nur dann erzielt werden, wenn man durch den Strom empfindliche Schmerzen auslöst. [...] Den elektrischen Strom lasse ich etwa 2 – 5 Minuten wirken, dann werden Uebungen vorgenommen, dann wieder elektrisiert usw.
ad 3. Ein ausserordentlich wichtiges Hilfsmittel bei dieser Art von Suggestivbehandlung ist die Vorgesetzteneigenschaft des behandelnden Sanitätsoffiziers: die militärische Disziplin verlangt absoluteste, kritiklose Unterordnung unter die Befehle des Vorgesetzten, und diese schafft für die Erzielung eines Suggestiverfolges den günstigsten Boden. […] So lasse ich – nach jeweiliger elektrischer Bearbeitung – Leute mit Zitterbewegungen der Beine oder mit pseudozerebellarer Ataxie Marschübungen nach scharfen militärischen Kommando machen (genau wie auf dem Kasernenhof!), Leute mit Tremor des Kopfes müssen nach Kommando ‚Augen rechts‘ bzw. ‚Augen links‘ üben u[nd] d[er]gl[eichen] m[ehr]
ad 4. Der Erfolg kann nur erreicht werden durch unerbitterliche Hartnäckigkeit in der Durchführung der Behandlung. [...], man muss den Kranken auf jede Weise zur Ueberzeugung zu bringen suchen, dass man imstande ist, ihm den eigenen starken Willen aufzuzwingen. [...] Die Methode verlangt unbedingt eine sehr vorsichtige Indikationsstellung; denn sie ist, wenn länger fortgesetzte Anwendung schmerzhafter Ströme notwendig wird, ohne Zweifel etwas heroisch. Als bester Beweis für ihre Berechtigung trotz der Rücksichtslosigkeit des Vorgehens mag aber gelten, dass die so geheilten Leute zu unseren dankbarsten Patienten gehört haben. [...] Es ist nicht zu leugnen, dass die Ueberrumpelungstherapie an die Nerven des behandelnden Arztes grosse Anforderungen stellt. Aber der Erfolg lohnt die Mühe. Zudem kenne ich, abgesehen von der Hypnose, keine Methode die so prompte Heilung komplizierter psychogener Symptomenbilder erzielen lässt. [...] Als zweiten Vorzug betrachte ich den: der Hypnose kann sich der Widerstrebende entziehen; die Ueberrumpelungsmethode aber zwingt auch den Kranken, der nicht zur Heilung inkliniert, so gut wie immer in die Gesundheit hinein; denn der gewaltige Schmerzeindruck verdrängt alle negativen Begehrungsvorstellungen. [...] Es erscheint empfehlenswert, die Leute nicht gleich in den ersten Tagen nach der Heilung zu entlassen, vielmehr sie noch einige Wochen in der Hand zu behalten, um jeder Möglichkeit eines Rückfalls von vornherein die Spitze bieten zu können. [...] Zu Feldsoldaten eignen sich die Leute keineswegs mehr. Wir haben die Kranken nach Ablauf der mehrwöchigen Schonzeit meistens als garnisonsverwendungsfähig, z[um] T[eil] als Krankenwärter für die Heimat entlassen.“ Fritz Kaufmann: Die planmässige Heilung komplizierter psychogener Bewegungsstörungen bei Soldaten in einer Sitzung, in: Münchener Medizinische Wochenschrift, Feldärztliche Beilage 63 (1916), S. 802-804.