Laut dem Biographischen Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933–1945 von Strauss und Röder (1983) machten berufsausübende Mathematiker mit ca. 130-140 Personen (je nach Zählung zwischen 134 und 142) 14% aller Emigranten erster Generation aus (Siegmund-Schultze, HdE 1998: 770). Ausgenommen sind hier Mathematiklehrer an Schulen sowie Vertreter benachbarter Disziplinen, die sich selbst nicht der Mathematik zugehörig sahen. Hinzuzählen muss man weitere 53 Mathematiker, die verfolgt und/oder aus ihren Anstellungen an Hochschulen entlassen wurden, aber nicht emigrieren konnten oder wollten.
Die Emigration in der Mathematik ist im Vergleich zu anderen Disziplinen relativ gut erforscht. Das liegt daran, dass sich die Mathematik im Gegensatz zu anderen Disziplinen für die eigene Disziplingeschichte interessiert.
In der Weimarer Republik waren Juden sehr gut in die Disziplin der Mathematik integriert, was sich bspw. an der hohen Zahl von jüdischen Mathematikern an Hochschulen zeigen lässt: Unter den 63 Mathematikern, die zwischen 1899 und 1914 erstmals als ordentliche Professoren angestellt wurden, waren 15 jüdisch; 1915-1930 waren es wieder 14 von 68, also insgesamt rund 20,5% (Siegmund-Schultze 2008: 23ff.).
Von den etwa 100 besetzten Lehrstühlen im Fachbereich Mathematik in Deutschland und Österreich waren ab 1933 insgesamt 45 Akademiker von Entlassungen betroffen. Dem gegenüber steht die von allen Wissenschaften durchschnittliche Entlassungsquote von 25% (Siegmund-Schultze, HdE 1998: 7771f.). Durch diese sehr hohen Entlassungsquoten kam es in der Folge auch überdurchschnittlich oft zur Emigration.
In der Mathematik war ab 1933 der größte Anteil der Emigrationen durch die sog. „nicht-arische“ Herkunft bedingt: von 187 traf das auf 148 Personen zu, also auf knapp 80%. Besonders betroffen waren die Mathematiker in Berlin (23), im damals führenden Göttingen und Wien (je 20) sowie in Prag (15) (Zahlen nach Shaper 1992: 554).
Neben den allgemeinen Emigrationsgründen zu dieser Zeit gab es auch spezielle, für die Mathematik spezifische Gründe für eine Emigration. Hierzu gehört die Begründung der sogenannten „Deutschen Mathematik“. Sie wurde von dem Mathematiker Ludwig Bieberbach eingeführt und verfolgte das Ziel, jüdische Mathematiker aus der Disziplin zu verdrängen und die Mathematik weniger abstrakt und formalistisch, sondern anschaulicher und intuitiver zu machen (Lindner 1980, Peckhaus 1984, Remmert 2007).
Ab 1914 gab es in den USA einen steigenden Bedarf an Mathematik-Professoren, da das dortige Universitätssystem einen Aufschwung erlebte und zusätzlich wegen der inkompatiblen politischen Einstellungen der Länder weniger Studenten europäische Universitäten besuchten. So wurden immer mehr Mathematikern aus Deutschland (und Europa) Lehrstühle angeboten, um den Bedarf an Dozenten zu decken und zusätzlich von deren großen Lehrerfahrung zu profitieren (Siegmund-Schultze 2008, Bergmann & Epple 2009).
Bereits vor 1933 bestanden erste disziplinäre Verbindungen zwischen den beiden Ländern; so hatten zwischen 1862 und 1936 insgesamt 71 Mathematiker aus den USA in Deutschland (davon 23 in Göttingen) promoviert. Durch die sich verstärkende Migrationswelle ab 1914 wurden diese Verbindungen nochmal vertieft, was in den 1930er Jahren einen großen Einfluss auf die Emigration von Mathematikern in die USA haben sollte (Shaper 1992: 557).
Wie in den meisten Disziplinen begann die erste große Emigrationswelle 1933. So waren es im Jahr 1933 mit Sicherheit mindestens 32 Mathematiker, 1934 folgten weitere 20.
Jahr | Emigranten | Davon Frauen |
---|---|---|
1933 | 32 | 4 |
1934 | 20 | 0 |
1935 | 3 | 0 |
1936 | 12 | 0 |
1937 | 11 | 1 |
Gesamt | 81 Personen | 5 Frauen |
Die Emigration gelang vor allem den jüngeren der Mathematiker.
Bei den älteren gab es einige gescheiterte Auswanderungsversuche, was unter anderem an der geringeren sozialen Anpassung in Deutschland vor 1933 lag, aber auch an den sehr hohen Aus- und Einwanderungshürden (Visum), vor allem dem Erhalt eines Ausreisevisums (Siegmund-Schultze 1998: 83f.)
Insgesamt fand etwa die Hälfte der mathematischen Emigranten in den USA ihre neue Heimat, da es im dortigen wachsenden Hochschul-system mehr Aufnahmefähigkeit gab. Im Gegensatz zur zivilen Bevölkerung gab es hier für Wissenschaftler bei der Einreise eine Ausnahmeklausel. Sie ermöglichte eine vereinfachte Einreise, wenn man für eine akademische Anstellung einreiste und die letzte im Heimatland weniger als 2 Jahre zurücklag. Außerdem gab es Studentenvisa, auf die in einzelnen Fällen zurückgegriffen wurde (Siegmund-Schultze 1998: 87f.; Shaper; Literatur über die Situation im Emigrationsland meist auf die USA als häufigstes Ziel bezogen; somit in fast allen Texten zur Mathematik zu finden.)
Mathematiker profitierten vor allem von privaten Hilfsorganisationen und persönlichen Kontakten zu Kollegen, zum Beispiel zu solchen, die bereits zwischen 1914 und 1930 in die USA ausgewandert waren und dort beispielsweise Anstellungen an Universitäten organisieren konnten oder für die Einreise nötige Affidavits übernahmen. In einigen Fällen wurden sogar Scheinheiraten organisiert, um einen Nachzug von „Familienangehörigen“ zu ermöglichen. Aber auch das Emergency Committee in Aid of Displaced German Scholars und die Rockefeller Foundation trugen mit einer Förderung von ca. 20% der Immigranten einen entscheidenden Teil bei (Hilfsorganisationen). Außerdem wurde der German Mathematicians‘ Relief Fund gegründet, dem jedoch wenig finanzielle Mittel zur Verfügung standen, sodass vor allem das private Engagement seiner Gründer, der Emigranten Hermann Weyl und Emmy Noether, Erfolge vorzuweisen hatte.
Mit dem „Anschluss“ Österreichs 1938 wurde die zweite große Emigrationswelle ausgelöst, die sich in der zahlenmäßig deutlich vom Vorjahr abgrenzt: waren es 1937 noch 11 Mathematiker, stieg diese Zahl 1938 auf 28 Personen, die emigrierten; davon waren 14 aus dem neu angeschlossenen Österreich (zur Emigration österreichischer Mathematiker siehe insb. Stadler 1988: 118ff.). Auch im Folgejahr 1939 folgten erneut 24 Mathematiker ihrem Beispiel – hierbei waren allerdings nur noch 4 aus Österreich, dafür zusätzlich 3 Personen aus Polen dabei (für Einzelschicksale und dazugehöriges Anschauungsmaterial hier noch der Hinweis auf Sigmund 2001, Katalog einer Ausstellung „Kühler Abschied von Europa“ – Wien 1938 und der Exodus der Mathematik).
Jahr | Emigranten | Davon Frauen |
---|---|---|
1938 | 28 (inkl. 14 Ö) | 2 |
1939 | 24 (inkl. 4 Ö, 3 Polen) | 1 |
1940 | 4 | 0 |
1941 | 1 | 0 |
Gesamt | 57 Personen | 3 Frauen |
Zielorte für Mathematiker waren vor allem die USA, in die insgesamt 75 der ca. 140 Emigranten gelangten. Zweithäufigstes Zufluchtsland war Großbritannien. Hier konnten 16 von ihnen Zuflucht finden, für weitere 10 Personen diente es als Zwischenaufenthalt vor der Weiterreise. Weiter waren vor allem Palästina mit 9, Südamerika mit 5, und Norwegen, die Sowjetunion sowie Australien mit jeweils 3 Emigranten häufige Aufnahmeländer. Auch die Mathematiker sahen sich mit den allgemeinen Problemen der emigrierten Wissenschaftler konfrontiert (Psychoanalyse der Emigration). Hierzu zählten ungenügende Sprachkenntnisse, mangelnder Kontakt zu Studenten und Kollegen, ungewohnte Lehrbelastungen, Unterschiede im wissenschaftlichen Meinungsstreit und den Moralvorstellungen beider Länder, Reputationsverlust durch den Emigranten-Status und weitverbreitete Skepsis gegenüber Emigranten und (u.a. daraus resultierende) geringere Gehälter (Siegmund-Schultze 1998: 195f.).
Die Gefühle gegenüber den Emigranten aus Deutschland waren gemischt. Durch die Anstellungen von deutschen Mathematikern an Universitäten in der USA kam bei den amerikanischen Kollegen neben der generellen Fremdenfurcht die Sorgen um ausreichend Arbeitsstellen und -chancen hinzu. Da die Finanzen der Lehrstühle von universitärer Seite nicht (oder nur kaum) aufgestockt wurden, sahen sie sich z.T. ihrer eigenen potentiellen Stellen beraubt und auf eine Akademikerarbeitslosigkeit zusteuern. Um diesen Fall zu verhindern, wurden neben den verschärften Einwanderungsgesetzen an Hochschulen ethnische Quoten und Zulassungsbeschränkungen eingeführt. (Hilfsorganisationen: z.T. Übernahme der Lohnzahlungen gegen Stellen-Konkurrenz).
Auch der Aufbau von Abteilungen und Instituten für angewandte Mathematik war nicht unüblich, beispielsweise das 1933 gegründete Institute für Advanced Study in Princeton. Bekannt ist außerdem das Courant Institute of Mathematical Science an der New York University, 1936 von Courant gegründet. Hier arbeiteten nur Emigranten, die somit nicht in direkter Konkurrenz zu amerikanischen Kollegen standen (für eine Parallele zur New School of Social Research vgl. hier den Beitrag über Sozial-Wissenschaften) (Siegmund-Schultze HdE 1998: 772f und 775).
Andererseits gab es die Hoffnung, dass sich durch die Immigration deutscher Mathematiker ganz neue Chancen in der Mathematik ergeben könnten. Die Solidarität den Emigrierten gegenüber nahm erst mit Beginn des zweiten Weltkriegs 1939 und den daraus resultierenden Kriegsvorbereitungen der Vereinigten Staaten zu, da nun die angewandte Mathematik sehr gefragt war (Siegmund-Schultze 1998: 159f.; Shaper 1992: 561 und weitere).
Durch den Strom von Emigranten wurden insb. in den USA tatsächlich etliche neue Entwicklungen innerhalb der Mathematik ausgelöst und neue Felder begründet (Wissensmigration), die häufig in unmittelbarem Zusammenhang zum Militär standen. So gab es etwa entscheidende Fortschritte in der Theorie von Explosionen in Luft und Wasser, zum Verhalten von Gasen in Triebwerken von Flugzeugen und Raketen, in der Mechanik deformierbarer Medien, in der Entwicklung von Computern (Flussdiagramme, binäres Rechnen…), in der sequentiellen Analyse und in der Spieltheorie und Quantenmechanik, um nur einige zu nennen (Shaper 1992: 562ff.).
1933-1945 konnten 26 Mathematiker nach Großbritannien immigrieren, von denen 10 nach einem Transitaufenthalt weiterreisten, vor allem in die USA. Durch die Hilfe von Godfrey H. Hardy kamen an der Universität Cambridge zwischenzeitlich 18 emigrierte Mathematiker unter (Siegmund-Schultze HdE 1998: 774). Die im Mai 1933 gegründete Hilfsorganisation Academic Assistance Council (AAC) spielte für die Vermittlung nach Großbritannien für alle Wissenschaftler, besonders aber für Mathematiker eine bedeutende Rolle. Bis zum 1. Juni im gleichen Jahr konnten ca. 10.000£ zusammengetragen werden, die zur Finanzierung der entlassenen Akademiker vorgesehen waren; Verheiratete sollten mit 250£ jährlich versorgt werden, Alleinstehende mit 182£ pro Jahr. Allein im ersten Jahr konnten so 49 Akademiker vollständig versorgt werden, sowie weitere 90 teilweise (Fletcher 1986: 17).
Durch die sehr hohe Entlassungsquote im Fachbereich Mathematik und die darauffolgende Emigration wurde die Zahl der an den Hochschulen verbleibenden Akademikern deutlich geringer. So kam es ab etwa 1935 zu großen Schwierigkeiten, als die freien Lehrstühle neu besetzt werden sollten. Für die TH Aachen bspw. wurde die Neubesetzung für eine zweite Lehrstelle in der Mathematik sowie ein Ordinariat in darstellender Geometrie ausgeschlossen:
„Der Mathematik kommt in Zukunft geringere Bedeutung zu. Es sollen weniger mathematische Vorlesungen gehalten werden, umso mehr [,] wenn die vorhandenen Lehrkräfte nicht ausreichen, Vorlesungen im bisherigen Umfange zu halten.“ (Peckhaus 1984: 153).
Wie im Falle der Dozenten gab es auch große Probleme bei der Anstellung von Assistenten; sie konnten sehr spontan an eine andere Universität versetzt werden oder wurden ohne Angabe von Gründen von Professoren oder Studenten abgelehnt (Peckhaus 1984: 150-157).
In der Mathematik war die Remigration sehr unterdurchschnittlich; von 112 kehrten nur 8 Emigranten zurück nach Deutschland (Heimkehr in ein fremdes Land [RD]), wobei mit Sicherheit die große Anzahl an jüdischen Emigranten einen entscheidenden Faktor ausmacht.
Im Gegensatz zu anderen Disziplinen gab es in diesem Fachbereich sehr wenig Anpassungsschwierigkeiten an das Emigrationsland, was unter anderem daran liegt, dass die sprachliche Barriere in der Mathematik eine untergeordnete Rolle spielte.
Außerdem waren die amerikanischen Universitäten sehr viel besser ausgestattet als die in Deutschland, wo die Mathematik einen Rückgang hatte erfahren müssen, und an den Behörden und Universitäten stieg der Bedarf an angewandter Mathematik immer weiter an. Siegmund-Schultze schreibt sogar von einer zweiten Welle der Emigration nach 1945 in die USA (HdE 1998: 773).
Ähnlich die Situation in Österreich – insgesamt waren nur 3 der Entlassenen von 1938 nach Ende des Krieges (ab ca. 1945) wieder an einer Hochschule angestellt. Von den emigrierten Mathematikern wurde keiner zurückgeholt (Stadler 1988: 121).