Emigration und Exil von Wissenschaftlern und Ingenieuren 1930-1950


Psychoanalyse der Emigration



Inhaltsverzeichnis

Macht Emigration psychisch krank?
Wer ist von der Emigration betroffen?
Trauer, Heimweh und die Folgen
Im Exilland
Migrationspsychiatrie
Zusammenfassung
Benutzte Literatur


Macht Emigration psychisch krank?



Die Folgen der Emigration von Menschen ist ein vielschichtiges und noch wenig erforschtes Gebiet der Psychoanalyse. In der einschlägigen Literatur wird beschrieben, dass der soziokulturelle Übergang einer Emigration mit somatischen und psychosozialen Stressfaktoren einher gehen kann. Die historische Exilforschung versucht i.d.R. Zahlen und Namen den Orten und Jahren zuzuordnen.

Welche Traumata, Fluchtereignisse und Ohnmachtsgefühle müssen aber von Emigranten verarbeitet werden. Wie erleben sie die Emigration, wie wird ihre Emigration von der Gesellschaft gewertet und welche Erfahrungen wurden dann im Exil mit der Bevölkerung gemacht? Diese Fragestellung auch nach der psychischen Gesundheit der Emigranten, ist angesichts der weltweiten Flüchtlingswellen immer wieder aktuell.

Als Einfluss auf die gesundheitsrelevanten Faktoren der Psyche und des Körpers von Emigranten sind persönliche und kollektive Erfahrungen sowie alters und geschlechtsspezifische Erfahrungen zu beachten. Eine adäquate medizinische Betreuung während der Emigration hat einen bedeutenden Einfluss auf die psychische oder physische Gesundheit. "Migration ist eine potenziell traumatische Erfahrung, die durch eine Reihe von partiellen traumatischen Ereignissen gekennzeichnet ist und die zugleich die Krisensituation bildet. Diese Krise kann ihrerseits die Migration auslösen oder auch Folge der Migration sein." Durch die Emigration wird die Persönlichkeit so weit beeinflusst, dass Kreativität, Individualität und Intelligenz stark eingeschränkt sind (Grinberg, S14). Inwieweit die emigrierten jüdischen Gelehrten und Forscher durch die Emigration in ihrer Lebensleistung negativ beeinflusst wurden, oder ob sie erst durch die Migration neue Impulse und Motivation erfahren haben, ist nicht schlüssig zu elaborieren (Wissenstransfer). Traumata und schwere depressive Ängste, extremer Stress, Gefühle der Entwurzelung und Verlust des Lebensraumes betreffen fast alle dieser Emigranten.



Wer ist von der Emigration betroffen?



Individuen, Familienverbände oder ganze Bevölkerungsgruppen aus den unterschiedlichsten Herkunftsländern emigrieren aus den unterschiedlichsten Gründen (Grinberg S.17 ff). Die freiwillige Emigration, wie der Ruf an eine ausländische Universität oder der Antritt einer sonstigen Stellung sollen hier jetzt nicht behandelt werden. „Emigranten sind Menschen, die irgendwie gedrängt, getrieben werden und ein Forscher, der seiner Berufung folgt, ist kein Emigrant“ (Stern 1937, S.505). Bei der Emigration einer ganzen Bevölkerungsgruppe, wie z.B. die der europäischen Juden in der NS Zeit nach 1933 oder einer anderen kriegsbedingten Flüchtlingswellen, müssen wir mit Blick auf die psychische Gesundheit der Emigranten den Zwang beachten, der von der politischen Situation, vom Staat und der Gesellschaft auf diese Menschen ausgeübt wurde. Das Leben in Ihrer gewohnten Heimat ist für diese Emigranten nicht mehr möglich oder zu gefährlich. Diese Gruppe besteht aus verschiedenen Individuen, die unterschiedliche Fähigkeiten, Bildung und persönliche Reife aufweisen:

• Männer
• Frauen
• Familien, auch getrennte Familien und trauernde Eltern
• Kindern, Waisen
• Die Zurückgebliebenen

„Die Migration stellt eine Veränderung von solchem Ausmaß dar, daß die Identität dabei […] auch gefährdet wird. Der massive Verlust erfasst die bedeutsamsten und wertvollsten Objekte: Menschen, Dinge, Orte, Sprache, Kultur, Gebräuche, Klima, manchmal den Beruf, gesellschaftliche […] Stellung usw.“ (Grinberg 1990) Diese Entwurzelung bedeutet für die Betroffenen oft eine extreme Form der persönlichen Identitätskrise.
Meist emigrieren die Männer zuerst, um ihren Familien eine neue Heimat aufzubauen. Die Angst, die eigene Familie in unsicheren Zeiten zurücklassen und sie dort nicht beschützen zu können, führt oft zu tiefgreifenden persönlichen Schuldgefühlen vieler Migranten. Emigrationsgründe. Die zurückgelassenen Frauen und Kinder leben weiter in der Heimat unter den sehr schwierigen Lebensumständen, immer in der Hoffnung, bald folgen zu können.



Trauer, Heimweh und die Folgen



Die Trauerarbeit um ein verlorenes Land fällt unterschiedlich aus. Bei freiwilligem Verlassen der Heimat herrschen oft Schuldgefühle gegenüber den Zurückgelassenen und depressive Ängste vor, nach einer Verfolgung werden eher paranoide Ängste verstärkt. (Grinberg 1997) In der neuen Heimat erwartet die Emigranten dann oft eine Art Kulturschock, je größer der kulturelle Unterschied zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland ist, umso größer können die Anpassungsschwierigkeiten sein. Die sozialpolitische Atmosphäre in der Aufnahmegesellschaft und die öffentliche Haltung gegenüber den Emigranten sind zudem wichtige Faktoren bei der Integration, welche hilfreich oder auch erschwerend sein können. Untersuchungen der WHO ergaben, dass in erster Linie Depressionen bei Emigranten für den Verlust „gesunder Jahre“ zu beschreiben sind und so entsprechend große soziale und ökonomische Verluste entstehen. Wenn ein Individuum den notwendigen Individuationsprozess in der neuen Gesellschaft nicht erfolgreich abschließen kann, d.h. er kann sich nicht akkulturieren, dann kann er sein inneres Gleichgewicht kaum wieder erlangen. (Grinberg). Dieser Faktor ist aber individuell unterschiedlich zu betrachten, da je nach psychischer Resilienz des Einzelnen auch rasch eine Eingewöhnung stattfinden kann. Die individuelle Fähigkeit sich einer neuen Situation anzupassen, sich darin zu integrieren und die unterschiedlich stark ausgeprägte Fähigkeit, mit den überwundenen Schwierigkeiten abzuschließen, heißt Resilienz.



Im Exilland




Das Exilland kann ein sicherer Ort und Heimat werden oder auch nicht. Es ist psychisch labilen Emigranten oft kaum möglich, neue Bindungen einzugehen, ohne erneut von tiefen Verlustängsten eingeholt zu werden. Die Beschönigung des neuen Lebens, die Verleugnung und die Ablehnung des verlassenen sozialen Ursprungs dienen als Übersprungshandlung. Heimweh wird von Erwachsenen kaum offen kommuniziert, die Verleugnung von Heimatgefühlen dient den Menschen, den Schmerz über ihren Verlust zu verdrängen. Die Ablehnung, die die Emigranten häufig von den Daheimgebliebenen erfahren, ist eine enorme Entwertung der eigenen Persönlichkeit. (Stern 1937). Der Verlust von Familienangehörigen und wichtigen Bezugspersonen ist auch gerade für Kinder und Heranwachsende ein gravierender Einschnitt in das seelische Gleichgewicht, die wichtige Trauerarbeit auf der Flucht ist oft nicht möglich (Stern 1937). Für den Individuationsprozess und die gute Entwicklung von Kindern sind stabile Bindungen und eine sichere Umgebung wichtige Faktoren. Kinder, die während ihres Heranwachsens emigrieren müssen, leiden oft an starkem Heimweh, können die Flucht und die neue Umgebung kaum einordnen und haben oft auch als Erwachsene dann noch mit starken Verlustängsten zu kämpfen. Auch können bei Kleinkindern während der Flucht durch Mangelernährung oder Krankheiten bleibende Hirnschäden auftreten, die zu kognitiven Problematiken und Verhaltensstörungen führen können (Weiss S.111). Wichtige Entwicklungsschritte der Sozialisation können während einer Flucht oder Vertreibung nicht erfolgreich entwickelt und abgeschlossen werden. Wenn aber diese negativen Umweltbedingungen nicht allzu lange auf die Kinder einwirkt, ist es der guten Anpassungsfähigkeit der Kinder zu verdanken, dass sie diese Erlebnisse und die daraus resultierenden psychischen Probleme im Laufe ihres Lebens gut verarbeiten können und in der neuen Heimat ankommen können. Die rasche Entwicklung des Gehirns der Kinder hilft bei der Verarbeitung. Oft werden selbst schlimmste traumatische Erfahrungen so weit in das Unterbewusstsein verdrängt, dass ein normales Leben möglich wird. Erwachsene Emigranten hingegen brauchen eine gute Resilienz oder lange Therapien, um sich in die neue Situation einfinden zu können und die Erfahrungen aus der Vergangenheit verarbeiten zu können.



Migrationspsychiatrie



Nicht alle Menschen können diesen Bruch der Auswanderung in Ihrem Leben verarbeiten. Die Gründe, warum Emigranten aufgrund ihrer Emigration psychisch gesund bleiben oder erkranken, ist derzeit noch nicht endgültig erforscht (Weiss. S.147) Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS), dissoziative Störungen, der Gebrauch von psychotropen Substanzen, erhöhte Suizidgefahr und noch einige weitere Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen werden bei einigen als Folge der Emigration beschrieben. Bei einer gewaltsamen Vertreibung kommen meist noch Hass und Wut auf Aggressoren dazu, die zum Teil auch in der aufnehmenden Gesellschaft von den Emigranten hineingetragen werden. (Grinberg 1997; Weiss 1990)).

Eine adäquate medizinische oder psychologische Betreuung während der Migration scheitern oft schlicht an den Gegebenheiten oder fehlendem Personal. Sprachlichen Barrieren, kulturelle Sitten, Scham oder Ressentiments gegenüber der neuen Gesellschaft, erschweren eine psychologische Betreuung enorm. Phasen und Konflikte im Emigrationsprozess erschweren oft eine Akkulturation. Ein Identitätswandel, der für die Akkulturation im Exil von Nöten ist, fordert nach der anstrengenden Zeit der Verfolgung nochmals die letzten Ressourcen der Emigranten:

• Erlernen neuer kultureller Rollen
• Erlernen der neuen Sprache
• Zugang zu Institutionen finden
• Identifikation mit dem Gastland
• Angleichen von Norm- und Wertkonflikten

Die Akkulturation der Emigranten im Exil ist daher ein wichtiger Baustein, die psychologischen Aspekte einer Emigration zu verarbeiten. Aber auch die Rückbesinnung auf frühere Werte und die Gruppenbildung in der neuen Heimat mit Gleichgesinnten, fördern bei den Migranten das Gefühl der Sicherheit, der Kampf um neuen Lebensraum und die Etablierung einer neuen Identität gelingen in einer Gruppe oft leichter. Kulturelle und religiöse Bräuche werden dann auch im Exil weitergelebt und zelebriert (Grinberg 1997). Die Etablierung einer neuen Identität im Exil wird von manchen Psychologen dann als eine Art Wiedergeburt bezeichnet (Grinberg 1990).



Emigration der jüdischen Gelehrten 1933-1950



Erwachsene Menschen sind oft von der eigenen Ohnmacht gegen Gewalt und Willkür überwältigt. Im NS- Regime wurden durch die Nürnberger Gesetze bisher unbescholtene und geachtete Menschen über Nacht zu Menschen zweiten Ranges. Sie werden mehr und mehr entrechtet und gemieden. Durch die Emigration versuchen sie dieser Zwangslage zu entkommen (Stern 1935). Durch die Emigration wird die Persönlichkeit so weit beeinflusst, dass Kreativität, Individualität und Intelligenz stark eingeschränkt sind (Grinberg 1990). Inwieweit die emigrierten jüdischen Gelehrten und Forscher durch die Emigration in ihrer Lebensleistung negativ beeinflusst wurden, oder ob sie erst durch die Migration neue Impulse und Motivation erfahren haben, ist zur Zeit nicht schlüssig bewiesen. (Wissenstransfer).



Zusammenfassung



Die weltweiten, grenzüberschreitenden Emigrationswellen sind schon zu allen Zeiten ein Politikum gewesen, zu dem viel publiziert wurde und wird. War es früher hauptsächlich die Arbeit der Hilfswerke, sich um die Gesundheit von Emigranten zu kümmern, wird dies heute oftmals von öffentlichen Institutionen und Ministerien übernommen. Der Wandel von der Ausländerpolitik der frühen 80er Jahre zur transkulturellen Sozialpolitik, die die speziellen Bedürfnisse der Emigranten gerecht wird, beinhaltet insbesondere auch die psychosoziale Betreuung der Zuwanderer. Der komplexe psychosoziale Prozess der Emigration wird von kulturellen, soziostrukturellen, ökonomischen Faktoren beeinflusst. Hier überschneiden sich Disziplinen aus der Medizin, Soziologie, Ethnologie und einer transkulturellen Psychiatrie. Die medizinischen und psychologischen Risiken einer Emigration werden bis heute leider wenig wissenschaftlich diskutiert und diese Forschung wird (noch) vernachlässigt. Die Resultate zur psychosozialen Gesundheit von Migranten werden bis heute stark pathologisiert dargestellt und im Rahmen eines „Elendsdiskurses“ problematisiert. Emigration wird dabei unweigerlich zum Trauma. Die Perspektive der Emigranten und deren Ressourcen werden dabei kaum betrachtet. „Emigration ist auch immer ein Ausdruck von persönlichen Ressourcen von Individuen und Familien, […] die sich für diese einschneidende Veränderung entscheiden und sich eine neue Lebenswelt gestalten.“ (Weiss 1990. S.283)




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Benutzte Literatur



Grinberg, León & Rebecca: Psychoanalyse der Migration und des Exils. Aus dem Spanischen von Flavio C.Ribas. München, Wien 1990.
Krohn, Claus-Dieter u.a. (Hrsg.) Handbuch der deutschsprachigen Emigration. 1933-1945. Darmstadt 2008.
Stern, Erich: Die Emigration als psychologisches Problem. 1937. In: Deutschsprachige Psychologinnen und Psychologen 1933-1945. Ein Personenlexikon, ergänzt um einen Text von Erich Stern. Halle 2015.
Weiss, Regula: Macht Migration krank? Eine transdiziplinäre Analyse von Migrantinnen und Migranten. Zürich 2003.