Nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten im Januar 1933 erfuhren viele Politik- und Sozialwissenschaftler sehr rasch die Unerbittlichkeit der Machthaber. Da es diesen Berufsgruppen genuin ist, ihre Denkschulen, Strömungen und politische Haltungen kenntlich zu machen, war es ein leichtes für die totalitären Machthaber, ihre Gegner unter ihnen auszumachen. Insofern verwundert es nicht, wenn im Vergleich zu anderen Disziplinen weit überdurchschnittlich viele Sozialwissenschaftler emigrierten, auch wenn sie nicht von den rassistischen und antisemitischen NS-Gesetzen betroffen waren. König (1959/2021b: 240) spricht sogar von „einer fast vollständigen Emigration der Fachsoziologen“, aber die weiter unten referierten Zahlen ergeben eher Emigrationsquoten um die 50%.
In unterschiedlichen Facetten nahmen sich die sozial- und politikwissenschaftlichen Netzwerke den fundamentalen Zäsuren und Traditionsbrüchen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts an, um diese durch wissenschaftliche Methoden und Theoriebildung zu analysieren. Diese Untersuchungen der „Pathologie der Moderne“ (Schmid Noerr, 229) fanden beispielsweise am Frankfurter Institut für Sozialforschung, das im Exil die Frankfurter Schule formte, eine prominente Heimat. Die dort entwickelte kritische Gesellschaftsanalyse konstituierte sich, stark verkürzt, aus einer von Karl Marx abgeleiteten Denktradition verknüpft mit den Erkenntnissen Sigmund Freuds. Es lässt sich leicht erahnen, dass eine solche Institution nationalsozialistischen Zirkeln ein verhasstes Objekt war. Und so war der damalige Direktor des Instituts, Max Horkheimer, bereits 1931 so weitsichtig gewesen eine Zweigstelle in Genf einzurichten und Vermögenswerte vor einer möglichen Beschlagnahmung ins Ausland zu transferieren (Schmid Noerr, 230/Walter-Busch, 23).
In Teilen der wissenschaftlichen Gemeinschaft war der dunklen Vorahnung die unausweichliche Gewissheit über die Zukunft gewichen. Das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 tat dann sein übriges, da es als perfides Instrument der Selektion diente. Als jüdisch geltende und oppositionelle Wissenschaftler wurden entlassen oder zunächst in den Ruhestand versetzt. Dies galt im Besonderen für Mitglieder kommunistischer Organisationen. Zahlreiche jüdisch-stämmige Bürger wähnten sich zunächst noch in Sicherheit, da sie zunächst als Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs, oder als Angehöriger Gefallener, zumindest offiziell von den Entlassungen ausgenommen waren. Den massiven Repressalien der nationalsozialistischen Schergen waren sie dennoch unmittelbar ausgeliefert. Das galt gerade für die Hochschulen. Neben deren „Gleichschaltung“ ab April 1933, verursachten die Mitglieder des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbunds jedoch ein von Gewalt geprägtes Klima, das es allen, die nicht in die fanatische Ideologie der Faschisten passten, letztlich unerträglich machte, ihren Tätigkeiten an den deutschen Hochschulen weiter nachzugehen.
Auch in Österreich standen die Zeichen für Sozial- und Politikwissenschaftler bereits vor dem Einmarsch deutscher Truppen und dem von den Nationalsozialisten forcierten „Anschluss an das Deutsche Reich“ im März 1938 nicht sonderlich gut. Das autoritäre System des „Austrofaschismus“, auch als „Ständestaat“ apostrophiert, war ab 1933 seinem Wesen nach kein Hort progressiver Gesellschaftstheorien- und Analysen mehr (Fleck 1991, 3ff/Tálos, 435ff.). Sukzessiv wurde die Demokratie demontiert (Tálos, 269ff) und anhand von Gesetzen die Autonomie der Hochschulen untergraben (Ash 2017, 43ff). Bis zum Jahr 1938 verließen bereits circa ein Fünftel der insgesamt exilierten Sozialwissenschaftler das Land (Fleck 1994, 3).
Einige dieser früh emigrierten Angehörigen der Hochschulen waren Nationalsozialisten, die auf Grund der massiven Spannung zwischen dem Deutschen Reich und Österreich, die ihren tragischen Höhepunkt im „Juliputsch“ 1934 fand, in das nationalsozialistische Deutschland emigrierten. Wiederum kehrten einige Österreicher nach der Etablierung des nationalsozialistischen Regimes, als eine erste Etappe ihre Emigration, in ihre alte Heimat zurück (Fleck 1994, 3). Wobei die Aufnahme dieser Menschen durch die Machthaber eher widerwillig erfolgte (Embacher 2017, 93). Da das „Juli-Abkommen“ 1936 das Ende eines souveränen österreichischen Staates erahnen ließ, plädiert Christian Fleck, die ab diesem Zeitpunkt emigrierten als Exilanten des NS-Regimes zu werten (Christian Fleck, S. 3). Die Phase der Vertreibung unter den Nationalsozialisten begann dann unmittelbar am 23. März 1938 „mit der Vereidigung der Beamtenschaft unter Einschluss der Professoren“ (Ash 2017, 51). Von der Vereidigung ausgeschlossen waren neben politisch Unliebsamen, hierhunter zählten u.a. Repräsentanten des nun abgelösten österreichischen Regimes, ebenso Personen die das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ und die „Nürnberger Gesetze“ rassistisch exkludierte (Ash 2017, 51).
Die Gruppe der Geistes- und Sozialwissenschaftler ist quantitativ nicht leicht zu erfassen. Es gilt disziplinare- und biographische Transformationsprozesse zu berücksichtigen, um valide Aussagen bezüglich der Einzeldisziplinen zu tätigen. Die heuristische Herausforderung sei kursorisch am Beispiel der Politikwissenschaft aufgezeigt, da diese Disziplin in den 1930er Jahre noch nicht ausgeformt war (Krohn 2001, 73ff/Söllner 1996, 7ff.). Eine institutionelle Ausnahme, wenn auch nicht im Rang einer Universität, stellte die Berliner Hochschule für Politik dar (vgl. Söllner 1996, 31ff).
Die früheste Abschätzung der Emigrationsquoten für die unsere Fachgruppe stammt von Christian von Ferber (1956: 143-146), der die Entwicklung des Lehrkörpers deutscher Universitäten und Hochschulen von 1864 bis 1954 statistisch untersuchte und 234 Fachvertreter der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften ermittelte, die Deutschland nach 1933 verließen – das waren zwar nur 8% aller 3120 von ihm erfassten emigrierten Hochschullehrer, aber 47% der auf diesen Gebiet tätigen Dozenten (noch ohne Einbeziehung der zum Teil auf verwandten Gebieten arbeitenden Geistes- und Rechtswissenschaftler). Im weiteren Verlauf wird sich noch zeigen, dass Krohn (siehe unten) allein von 200 Ökonomen schreibt. Eine weitere, frühe Zusammenstellung von Svend Riemer (1959) listet 37 namentlich erwähnte Soziologen auf, die ins Exil gingen. Riemer untersuchte aber ausschließlich in die USA emigrierte Soziologen und schloss in Österreich tätige Personen mit ein (Riemer 1959, 100f.)
Alfons Söllner erarbeitete anhand des International Biographical Dictionary eine kleine Kerngruppe von 64 Personen, die er dezidiert der Politikwissenschaft zuordnet. Dem Ort ihrer Promotion nach entstammen die meisten der Personen ursprünglich juristischen Fakultäten. Tätig an Universitäten wiederum, war nur ein Teil der Personen. Die anderen waren in freien Berufen, Verbänden und als Journalisten tätig (Söllner 1996, 10-11). Aus disziplingeschichtlicher Perspektive, arbeiteten bereits einige von ihnen „am Aufbau einer autonomen Politikwissenschaft“ (Söllner 1996, 12). Die tatsächliche Ausformung erfolgte dann mit der Emigration (Söllner 1996, 13ff). Überhaupt zu definieren, welche Personen Teil der sich etablierenden Politikwissenschaft war ist keine Trivialität. Darüber hinaus gehörten nicht wenige von ihnen gar nicht in den engen Kreis der Wissenschaft, da sie außerhalb klassischer Institutionen agierten. Die Zuordnung zur Politologie erfolgt ex post. Der Topos exilierter Geistes- und Sozialwissenschaftler beinhaltet somit auch Akademiker, die vor ihrer Emigration nicht an traditionellen Institutionen der Wissenschaft tätig waren. Dies hat nicht nur für die entstehende Disziplin der Politikwissenschaft seine Gültigkeit. Das für dieses Projekt vorliegende Datenmaterial, fand von daher eher großzügig Einzug in die Karten. Da es sich hierbei um eine Gesamtdarstellung handelt, ist das Problem der quantitativen Trennschärfe zwischen den Disziplinen obsolet.
Christian Fleck verweist im Zuge seiner Datenerhebung der aus Österreich emigrierten Sozialwissenschaftler auf ganz ähnliche Probleme sowie mögliche Errata und bezeichnet seine „Daten nur als vorläufiger Annäherungsversuch“ (Fleck 1994, 5). Fleck bezieht in die Gruppe sozialwissenschaftlicher Emigranten eine ganze Reihe von Disziplinen ein. Neben der naheliegenden Soziologie, finden sich dort die Ökonomie, Psychologie, Psychoanalyse, Politologie, Rechtswissenschaften, Zeitgeschichte und Sozialphilosophie. Ausschlaggebend ist für ihn, ob die Personen sozialwissenschaftliche Arbeiten hervorgebracht hatten. Die ermittelte Gesamtquote von 70,6 % Prozent Emigrierter (414 absolut) erscheint Fleck etwas zu hoch und er vermutet eine Untererfassung von nicht-emigrierten Sozialwissenschaftlern. Dennoch lassen gut erforschte Disziplinen, wie die Soziologie, valide Schlüsse zu. Hier errechnet Christian Fleck eine Emigrantenquote von 53,6 % von 140 Personen (Fleck 1994, 5). Jedoch existierte in den 1930-er Jahren in Österreich kein ausgeformtes Fach der Soziologie mit eigner Periodika oder andern disziplinspezifischen Attributen. Nur wenige Personen identifizierten sich selbst als Soziologen und falls sie dies taten, verorteten sie sich aber grundsätzlich einer anderen Disziplin zugehörig (Fleck 1987b, 319). Das Fach konstituierte sich darüber hinaus hauptsächlich aus außeruniversitären Akteuren (Fleck 1987a, 195). Die Datenbasis ergibt sich analog zu den deutschen Politologen, durch die spätere Einordnung der Emigranten in das Fach der Soziologie.
Bei einer Gruppe von 46 sorgfältig definierter Soziologen, ermitteln die Untersuchungen Flecks die USA als bei weitem häufigstes Emigrationsland mit 30 Personen, gefolgt von Großbritannien; dorthin emigrierten 8 Personen. In Palästina suchten 4 und in der Schweiz 2 Personen Exil. Je eine Person fand in der Sowjetunion und der Türkei Aufnahme (Fleck 1994, 6-7 verwendet für USA & GB Prozentangeben, bei den andern Ländern Personenzahlen). Gemeinsam ist den Daten verschiedener Statistiken jedenfalls, dass die USA das wichtigste Zielland waren, wobei die Arbeit René Königs 10 deutsche „Sozialwissenschaftler und Nationalökonomen“ (König 1959/2021, 248) in der Türkei belegen kann.
Der schillernde „Wiener Kreis“ war vom hervorgekrochenen Faschismus, als dieser sich 1933 endgültig aufrichtete, ebenso betroffen. (Dahms 1988, 66ff/Edmonds 2021). Die prominentesten Mitglieder der neopositivistischen Denkschule verließen das Land bereits während des Austrofaschismus, falls sie nicht längst andern Orts tätig waren oder ein endgültigeres Schicksal sie heimsuchte (biographische Anm. zu drei Prominenten des Kreises.: Rudolf Carnap bereits ab 1931 Prag, Hans Hahn verstarb 1934, Moritz Schlick ermordet am 22.06.1936). Durch das Verbot des ihm nahstehenden „Vereins Ernst Mach“ 1934, hatte der „Wiener Kreis“ darüber hinaus eine wichtige, mediale Plattform verloren. (Dahms 1988, 75ff). Die noch verbliebenen Mitglieder emigrierten 1938 oder verharrten ohne wissenschaftliche Anstellung in der zweiten Diktatur (Dahms 1988, 83). Es folgte die systematische Demontage den Nationalsozialisten verhasster philosophischer Strömungen (Dahms 1988, 88ff.). Den Angehörigen des mit der „Wiener Schule“ kooperierenden „Gesellschaft für empirische Philosophie“ in Berlin erging es ebenso. Hans-Joachim Dahms (1988, 91) verweist darauf, dass der Berliner Zirkel über die Länder Türkei und Belgien ihr finales Exilland USA erreichten. Wohingegen die Wiener, die „mit wenigen Ausnahmen die USA“ (als ihr Exilland wählten, Nordamerika direkt erreichten (Dahms 1988, 91ff.). Die Gruppen an Donau und Spree waren gleichermaßen heterogen und beheimateten unter-schiedliche Berufsgruppen aus den Politik und Sozialwissenschaft wie aus den Naturwissenschaften.
Alfons Söllner ermittelt für seine Gruppe von 64 Staats- und Politikwissenschaftlern, die eine Lehrposition im engeren Sinne innehatten, ebenso die USA mit 54 Exilierten als häufigstes Zielland, gefolgt von Großbritannien mit 5 Emigranten (Söllner 1990/91, 1996). In der Schweiz, Spanien, den Niederlanden und Palästina fand jeweils eine Person Zuflucht (zu europäischen Ländern als Zufluchtsort für emigrierende Soziologen vgl. ferner König 2021). Die Politikwissenschaftler verließen beinahe zur Hälfte bereits 1933 ihre alte Heimat. Auch bei ihnen setzte dann eine zweite, intensive Phase der Flucht 1938/39 ein. Söllner sieht hier neben den „Novemberprognomen […] auch […] die Annexion Österreichs“ (Söllner 1996, 13) als ursächlich an.
Für die hier exemplarisch angeführten Berufsgruppen, welche unter den Disziplinen Politikwissenschaft, Soziologie und Philosophie subsumieren, waren die Vereinigten Staaten eindeutig das häufigste Exilland (siehe dazu insb. Papcke 2017). Dies spiegelt sich in dem Hilfsprogramm der Rockefeller Fundation für vertriebene Wissenschaftler wider. Sie unterstütze mit ihren drei Hilfsprogrammen zwischen 1933 und 1945 insgesamt 303 Wissenschaftler. Die Geistes- und Sozialwissenschaftler stellten die mit Abstand größte Gruppe des Hilfsprogramms dar. Claus-Dieter Krohn (1987, 38) führt 113 Sozialwissenschaftler (37%) und 59 Geisteswissenschaftler (19%) an.
Auch die Ökonomen, mit „insgesamt mehr als 200 Personen und damit die größte Gruppe im Bereich der Gesellschaftswissenschaften“ (Krohn 1997, 210), waren zu großen Teilen nach Nordamerika exiliert. Die Wirtschaftswissenschaftler waren eine faszinierende und dynamische Einheit innerhalb der Emigranten. Bereits in Europa hatten sich viele von ihnen aus den manifesten Strukturen tradierter Denkschulen gelöst. Sie reagierten mit neuen Theorieansätzen auf die wirtschaftlichen Herausforderungen wie beispielweise die zunehmenden Automatisierung der Produktionsprozesse. Ihre Überlegungen überstiegen hierbei die Theoriebildung und sie entwickelten praktische Handlungskonzepte. Ökonomische und soziologische Fragestellungen waren hierbei verschränkt. Ein weiterer Beleg, wie eng die hier dargestellten Disziplinen miteinander verwoben waren. Krohn begreift deren Arbeit und Handeln „als politischen Beitrag zu der neuen deutschen, von permanenten Krisen geschüttelten Weimarer Republik“ (Krohn 1997, 209). Ihr tun war also progressiv und demokratisch orientiert, folglich „gehörten [sie] zu den ersten, die von den Nationalsozialisten vertrieben wurden“ (Krohn 1997, 209).
Die ökonomischen Konzepte fanden im Amerika des Franklin D. Roosevelts New Deal einen Resonanzraum. Die Emigranten erreichten den Kontinent jenseits des Atlantiks, als die US-Amerikanische Administration den Isolationismus allmählich abstreifte und sie fanden an der New School for Social Research einen Ort zur Institutionalisierung der eigenen Strömung. Deren Direktor, Alvin Johnson, kannte das deutsche Bildungswesen sehr gut und war der kritischen Sozialforschung zugewandt. Um die wissenschaftliche Kapazität der Emigranten nicht zu dividieren, schwebte ihm eine ganze „University in Exile“ vor (Sprondel 1981). Johnson war auch weitsichtig genug, das Schicksal der bedrohten Wissenschaftler nicht nur in die Hand einer einzigen, einmaligen Rettungsaktion zu legen, sondern eine reale Zukunftsperspektive zu schaffen (Krohn 1987/1997, 70ff./218ff., 1988). Tatsächlich versammelten sich mit wenigen Ausnahmen die Vertreter der „Reformökonomen“, wie Claus-Dieter Krohn die Exilierten überschreibt, in den USA. Unterstützt durch altruistische Stiftungen waren sie gut integriert und konsultierend für die Regierung des Präsidenten Roosevelt tätig. Die meisten emigrierten österreichischen Nationalökonomen, die sich in die Gruppe der „Austromarxisten“ und „Austroliberalen“ unterteilten, fanden ebenso in den USA Zuflucht. Wobei es einigen Vertreten des der liberalen Strömung gelang, an renommierten Universitäten unterzukommen (Müller 1987a, 238ff.). Die wissenschaftlichen Dispute der verschiedenen Schulen wurden in den Vereinigten Staaten fortgeführt (Krohn 1997, 219ff.).
Das eingangs vorgestellte Frankfurter Institut für Sozialforschung fand 1934 in von der Columbia University zur Verfügung gestellten Räumen Unterschlupf. In Hausnummer 429 West 117th Street firmierte es unter dem Label „International Institute of Social Research“. (Homann, 60ff./Walter-Busch, 25ff./Wiggershaus, 33ff.). Es gelang, einen engen Kreis von Mitarbeitern in New York wieder zu versammeln, wobei - um ein Person hervorzuheben - Walter Benjamin New York nie erreichte. Er tötete sich 1940 selbst. Die richtungsweisende, viel rezipierte „Kritische Theorie“ fand 1937 in der Zeitschrift für Sozialforschung, die zunächst auch in den USA erschien, ihre entscheidende Namensgebung (Albrecht, 25/Schmid Noerr, 228/Max Horkheimer: ZfS. 6, 1937, S. 245-294).
Das Institut tat sich ab 1938 finanziell schwer, was mit wenigen Ausnahmen die Mitarbeiter zur Veranlassung zwang, andere Anstellungen zu finden (Homann, 65/Walter-Busch, 28ff.). Es war also nur eine bedingte Erfolgsgeschichte des Exils, die das Institut für Sozialforschung in den USA schrieb (u.a. Wheatland, 61ff.). Zwei bestimmende Persönlichkeiten des Instituts, Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, fanden in Kalifornien ein Refugium, um eines ihrer Hauptwerke zu verfassen, dass schließlich unter dem Titel „Die Dialektik der Aufklärung“ Einzug in den Kanon geisteswissenschaftlicher Hauptwerke der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fand. Dennoch verfasste auch Adorno nach 1945 einen doch recht kritischen Erfahrungsbericht über seine Exilzeit in den USA, in dem er u.a. über die Prädominanz empirisch-statistischer Fragen in der amerikanischen Sozialwissenschaft klagt (Adorno 1969), während umgekehrt die Gastgeber sich über die Tendenz europäischer Exilanten zu großem Theoretisieren wunderten.
Für viele andere Sozialwissenschaftler war die Assimilation und Integration in die neuen Kontexte und Lebensumstände jedoch weit schwieriger. Svend Riemer und Ilja Srubar beschreiben einen Prozess der Ossifizierung, des Stehenbleibens in den intellektuellen Kontexten ihrer Ursprungsländer, was bei vielen zu einer Verlagerung der beruflichen Schwerpunkte auf statistisch-mathematische, verwalterische oder erzieherische Kontexte bedeutete (Riemer 1959: 105ff., Srubar 1991). Wobei die Schrift Riemers mittlerweile selbst als zeitgeschichtliches Dokument betrachtet werden muss, zumal Riemer einleitend schreibt, dass es sich „nur um eine subjektive Schilderung“ von Emigranten handelt, „von denen der Verfasser gehört oder die ihm persönlich bekannt geworden sind“ (Riemer 1959, 100).
Mit dem Zweiten Weltkrieg ereilte die Sozialwissenschaftler im Exil eine neue Rolle und sie „wurden in die Kriegsplanungen der Alliierten einbezogen, arbeiteten mit an der Informationsbeschaffung, am psychological warfare, an kriegsrelevanten Zeitanalysen (Radio and Propaganda Research, War in Our Times etc.)“ (Papcke 2017, 152). Ihre Kenntnisse über die alte Heimat diente Analysen und ihre gesellschaftswissenschaftliche Kompetenz führte sie in einflussreiche, konsultierende Positionen hinsichtlich der Nachkriegsordnung (Papcke 2017, 152). Neben diesem bellizistischen Wirkungsfeld das seine Spuren hinterließ, sieht Papcke bemerkenswerte „wissenskulturelle“ und disziplingeschichtliche Einbringungen der Emigranten in ihre Aufnahmeländer, wie etwa der Verankerung der Soziologie in Dänemark, England, den Niederlanden, in Mittelamerika oder Palästina (Papcke 2017, 153).
Sollen in dem vorliegenden Projekt grundsätzliche Abläufe der Emigration und des Exils strukturell und quantitativ aufgezeigt werden, erfolgte mit Adorno und Horkheimer eine bewusste Personalisierung, da die beiden Biographien Bestandteil der Remigration und der Konstitution der zweiten Demokratie in Westdeutschland sind. Das Institut für Sozialforschung wurde 1951 in Frankfurt wiedereröffnet und die exilierten Mitglieder wurden zur Rückkehr nach Deutschland eingeladen (Hammerstein 2012, 117ff. bzw. Walter-Busch 2010, 30ff.). Die in den USA entwickelten Ideen und Theorien, wurden schließlich stilprägender Teil intellektueller Debatten der Bundesrepublik die als Kontrast revisionistischer Strömungen fungierten. Diese erfolgreiche Rückkehr blieb aber eher die Ausnahme. Christian Fleck identifiziert bei den von ihm untersuchten 46 Soziologen sechs Remigranten die eine Professur erlangten. Immerhin konnten 30 von ihnen im Zufluchtsland eine Professur besetzen. Das Klima an österreichischen Hochschulen zeichnet Fleck düster, da „Linke und Juden […] nach 1945 an Österreichs Universitäten so unerwünscht wie in den Jahrzehnten davor“ (Fleck 1994, 7) waren. Siebzehn der von Alfons Söllner 64 beleuchteten Politikwissenschaftler kehrten zurück. Acht von ihnen gelangten „in ausgesprochene Leistungspositionen“ (Söllner 1996, 276) und prägten folglich die junge Disziplin der Politikwissenschaft in Westdeutschland maßgeblich. Wobei Söllner aufzeigt, dass es eines differenzierten Blickes bedarf, um die tatsächliche Wirkmächtigkeit abzuschätzen (Söllner 1996, 276ff.). Die stetig expandierende Disziplin trug jedenfalls zu einem modernen Demokratieverständnis bei. Auch dies geschah entlang revisionistischer, gesellschaftlicher Debatten. Die remigrierten Politik- und Sozialwissenschaftler waren auf vielen gesellschaftlichen Ebenen Anfeindungen ausgesetzt. Der Aderlass des Exodus war ohne Frage enorm, einige ganz wesentliche Impulse fanden nach 1945 den Weg aber wieder zurück.