Der Soldat an der Westfront – Der Einsatz von Giftgas

„Die Gaskampfmittel sind ganz und gar nicht grausamer als die fliegenden Eisenteile; im Gegenteil, der Bruchteil der tödlichen Gaserkrankungen ist vergleichsweise kleiner, die Verstümmelungen fehlen und hinsichtlich der Nachkrankheiten, über die naturgemäß eine zahlenmäßige Übersicht vorerst nicht zu erlangen ist, ist nichts bekannt, was auf ein häufiges Vorkommen schließen ließe. Aus sachlichen Gründen wird man unter diesen Umständen zu einem Verbote des Gaskrieges nicht leicht gelangen.“ (Quelle 1: Fritz Haber)

Im Verlauf des Ersten Weltkrieges wurde erstmals Giftgas als Kampfmittel verwendet. Treibende Kraft dahinter war der deutsche Chemiker Fritz Haber, der seit Herbst 1914 als Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physikalische Chemie und Elektrochemie in Berlin-Dahlem entsprechende Forschungen mit seiner Gastruppe vorantrieb. Später übernahm Haber dann als Abteilungsleiter der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft die wissenschaftliche Verantwortung für das gesamte Kampfgaswesen (Quelle 1). Ein erster größerer Einsatz von Reizgasen in sogenannten T-Granaten durch deutsche Truppen an der Ostfront scheiterte im Januar 1915 noch an der ungünstigen Witterung. Am 22. April 1915 erfolgte dann in der Zweiten Flandernschlacht bei Ypern unter persönlicher Aufsicht Habers die Freisetzung von 150 Tonnen Chlorgas. Der Kampfstoff entwich dabei nach dem so genannten Haberschen Blasverfahren aus im Boden eingegrabenen Stahlflaschen. Er sollte den Feind dauerhaft kampfunfähig machen (Quelle 2). Tatsächlich bedeutete der erste große tödliche Giftgaseinsatz an der Westfront die Etablierung einer neuen Massenvernichtungswaffe.

Obwohl der Einsatz von „Gift oder vergifteten Waffen“ der Haager Landkriegsordnung widersprach – ein unmissverständlich eindeutiges Verbot von Giftgas wurde allerdings erst 1925 mit dem Genfer Protokoll durchgesetzt – forschten auch auf alliierter Seite zahlreiche Wissenschaftler nach einer möglichst effektiven Einsatzweise von Kampfstoffen und bereiteten damit bereits kurze Zeit später ähnliche Angriffe auf die deutschen Truppen vor (Quelle 3).

John Singer Sargent: Gassed
John Singer Sargent: Gassed (1919)

Auf deutscher Seite arbeiteten neben dem späteren Aufsichtsratsvorsitzenden der IG-Farben, Carl Duisberg (1861–1935), der für technisch-industrielle Aspekte des Projekts verantwortlich war, weitere renommierte Wissenschaftler und spätere Nobelpreisträger wie Walther Nernst (1864–1941), James Franck (1882–1964), Otto Hahn (1879–1968) und Gustav Hertz (1887–1975) für die Realisierung des Gaskrieges. Bald schon befanden sich in den farblich markierten Giftgasgranaten neben den Lungenkampfstoffen Chlorgas und Phosgen (Grünkreuz) und den reizenden Augenkampfstoffen (Weißkreuz) weitere giftige Substanzen wie stark reizende Nasen- und Rachenkampfstoffe (Blaukreuz) oder das auf die Haut wirkende Senfgas (Gelbkreuz). Letzteres – auch als Lost bekannt und nach den Anfangsbuchstaben seiner Erfinder benannt – wurde von dem Chemiker Wilhelm Steinkopf mitentwickelt, der später eine Professur an der TH Dresden innehatte.

Gegen Grünkreuz-Beschuss halfen zusätzliche Filterscheiben in den Gasmasken, die seit Ende 1915 im Deutschen Reich produziert wurden. Ab 1917 wurde aber von beiden Seiten das perfide „Buntschießen“ praktiziert, das ebenfalls auf eine Idee Habers zurückging. Dabei wurde nicht tödliches aber stark reizendes Blaukreuz gezielt mit tödlichem Grünkreuz kombiniert. Gegen die Reizstoffe konnten die Gasmaskenfilter nichts ausrichten. Sie zwangen als „Maskenbrecher“ zum Abnehmen des Schutzes, damit Chlorgas und Phosgen ihr tödliches Werk verrichten konnten.

Innerhalb des Gasschutzes konnte unter anderem auf Erkenntnisse aus dem Bergbau zurückgegriffen werden. Um Soldaten zu retten, welche durch Kampfgas vergiftet wurden, erhielten die Sanitäter zum Teil den Grubenretter der Firma Dräger, welcher ursprünglich für den Einsatz untertage konzipiert worden war. Gasschutz wurde zunehmend zur Routine. Innerhalb sogenannter „Stinkräume“ wurde erprobt, ob die Gasmasken ausreichend dicht waren. In den Schützengräben dienten Gasglocken als akustische Warnsignale bei Gasangriffen (Quelle 4).

Der vorherrschende Westwind an der französischen Front verhinderte einen noch exzessiveren Einsatz von Kampfstoffen durch deutsche Truppen. Insgesamt starben ungefähr 90.000 Menschen durch die Einwirkung von Giftgas und damit nicht einmal ein Prozent der Kriegstoten des Ersten Weltkriegs. Allerdings waren auch eine Millionen Verletzte zu beklagen, die unter Blindheit, Hautverätzungen und Lungenschäden litten. Die Feldärzte mussten sich nun mit der Behandlung zuvor nicht bedeutsamer Verletzungen durch Giftgas auseinandersetzen (Quelle 5).

Insgesamt verlief der Gaskrieg weniger erfolgreich als erwartet. Seine Wirkung beschränkte sich im Wesentlichen darauf, Angst und Panik zu verbreiten, und gegnerische Kräfte durch die notwendig werdende Versorgung der Verletzten zu binden. Trotzdem wurde er offenbar von Frontsoldaten im Stellungskrieg als überlegene deutsche Waffe interpretiert, deren Einsatz trotz aller Schrecken karikiert werden konnte (Quelle 6).

Christopher Georgi, Dresden 2015

Literatur

Quelle 1: Fritz Haber: Fünf Vorträge aus den Jahren 1920–1923

Quelle 2: Arthur Ramsay Stanley-Clarke: Letters from Ypres

Quelle 3: Tagebuch von Otto Borggräfe

Quelle 4: Gasglocke als akustisches Warnsignal

Quelle 5: Tagebuch von Theodor Zuhöne

Quelle 6: Karikatur zum Gaseinsatz


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