Die Emigration deutschsprachiger Physiker und die Geschichte der Physik als Disziplin sind detailliert betrachtete Gebiete der wissenschaftshistorischen Forschung. Die anfängliche These von einer Schwächung der physikalischen Forschung durch eine massive Emigration von Physikern aus Deutschland und Österreich muss differenzierter betrachtet werden. Es ist jedoch festzuhalten, dass Deutschland und Österreich ihre führende Stellung in der physikalischen Forschung besonders in neuen Gebieten wie der Kern- und Quantenphysik an die Vereinigten Staaten verloren haben. Die Emigration deutschsprachiger Physiker ist ein Faktor dafür.
Die Physik als Disziplin war in besonderem Maße von der durch den Nationalsozialismus ausgelösten Emigration betroffen. In welchem Umfang diese Emigration stattfand, darüber existieren verschiedene, sich teils nicht vollständig deckende Untersuchungen. Im Folgenden wird auf die Emigrationszahlen und den Versuch der Quantifizierung eines auch über die Personenzahl hinaus stattgefundenen „Verlust“ eingegangen. Das Biographische Handbuch der Emigration 1933-1945 umfasst in seiner Datenbasis von über 7.800 Einträgen insg. 222 Personen, die als Berufsbezeichnung physics oder physicist enthalten. Dies ist natürlich nur ein Teil der insgesamt emigrierten Physiker, da insb. viele Industriephysiker von derartigen Nachschlagewerken nur schlecht erfasst wurden. Bei der Aufschlüsselung jener im Biographischen Handbuch erfassten Emigranten nach dem Jahr der Emigration lassen sich zwei Zeiträume erkennen, in den besonders hohe Zahlen auffallen. Einerseits 1933, das Jahr in dem die meisten Physiker an den Hochschulen ihre Anstellung verloren, andererseits die Jahre 1938 und 1939, in denen im Deutschen Reich die antisemitische Gesetzgebung weiter verschärft wurde und auch Österreich und die Tschechoslowakei annektiert wurden und dort nun auch die „Rassegesetze“ uneingeschränkt galten.
Emigrationsjahr | Emigration von Physikern | USA | Großbritannien | Palästina | Schweiz | Türkei | Frankreich |
---|---|---|---|---|---|---|---|
1933 | 56 | 3 | 24 | 6 | 8 | 3 | 4 |
1934 | 17 | 7 | 2 | 2 | 2 | 0 | 1 |
1935 | 15 | 3 | 1 | 2 | 1 | 2 | 1 |
1936 | 7 | 4 | 1 | 0 | 1 | 0 | 0 |
1937 | 12 | 4 | 4 | 1 | 0 | 1 | 1 |
1938 | 52 | 16 | 16 | 2 | 3 | 0 | 6 |
1939 | 49 | 23 | 20 | 2 | 4 | 0 | 1 |
1940 | 6 | 5 | 0 | 1 | 0 | 0 | 1 |
1941 | 5 | 3 | 0 | 1 | 0 | 0 | 1 |
Die primären Emigrationsziele von Physikern in den ersten Jahren des „100jährigen Reiches“ lagen zunächst im nahen europäischen Ausland, allen voran Großbritannien mit einem Anteil von knapp 43 % der emigrierten Physiker im Jahr 1933. In den Jahren 1938 und 39 zeigt sich abermals ein Schwerpunkt an Emigrationszahlen, dabei an den ersten beiden Stellen etwa gleichauf Großbritannien und die Vereinigten Staaten.
Bei der Erfassung der Emigrationszahlen der deutschsprachigen Physiker von 1933 bis 1945 wird eine Vielzahl von Zahlen genannt. Eine der ersten Berechnungen des Emigrationsverlustes in der Physik erfolgte durch v.Ferber 1956. Darin wird der Anteil an Emigranten auf 39 % beziffert, was in der wissenschaftlichen Diskussion lange Zeit die Referenz bildete und den sogenannten „brain drain“ in der Physik (also die massive Emigration hochqualifizierter Wissenschaftler) belegen sollte. Diese Berechnung vergleicht jedoch nur die Personenverzeichnisse der Universitäten von 1932 zu 1938 und berücksichtigt nicht den Personalverlust durch freiwillig Ausgeschiedene, Verstorbene und Nicht-Emigrierte. Die beispielhafte Analyse physikalischer Institute verschiedener Universitäten lässt erkennen, dass diese unterschiedlich stark von der Emigration betroffen waren. So lag der Anteil der emigrierten Physiker an der Universität Göttingen bei 50 %, an der Universität München bei 11 %. 50 von 322 Professoren und Privatdozenten sind als Emigranten bekannt. Fischer 1988 gibt eine durchschnittliche Emigrationsquote von 15,5 % des Lehrpersonals innerhalb der Physik an, mit Schwerpunkt Berlin und Göttingen, da beide Fakultäten dort 40 % der Emigranten, aber nur 20 % des Lehrpersonals umfassten. Nicht alle Universitäten waren von der Emigration betroffen: 20 der 36 Universitäten des Deutschen Reiches verzeichneten keine Emigranten in der Disziplin Physik (vgl. Fischer 1988 und Wolff 1993).
Die genaue Definition der Berufsgruppe der Physiker ist für die Emigrationszahlen entscheidend. Im Fall der Physik fand die Forschung nahezu ausschließlich an den physikalischen Instituten der Universitäten und Technischen Hochschulen statt. Physiker, die nicht an einer Hochschule, aber etwa einer Ingenieurschule angestellt waren, wurden in aller Regel nicht in der Statistik erfasst. Genauso nicht erfasst sind oft die Forscher an außeruniversitären Einrichtungen ohne Lehrauftrag, wie den Kaiser-Wilhelm-Instituten. Neben der Anstellung ist auch die Ausprägung des Fachgebietes von großer Bedeutung: in einem weiteren Sinne lassen sich der Physik auch die Astronomie, Meteorologie, Geophysik und physikalische Chemie zuordnen. Die Statistiken verfahren dazu oft uneinheitlich.
Hochschule | Lehrpersonal in der Physik | Davon emigriert | Anteil |
---|---|---|---|
TH Berlin | 25 | 4 | 16 % |
TH Dresden | 14 | 2 | 14 % |
TH München | 11 | 1 | 9 % |
TH Darmstadt | 9 | 2 | 22 % |
TH Stuttgart | 9 | 1 | 11 % |
Universität Berlin | 45 | 10 | 22 % |
Universität Göttingen | 22 | 11 | 50 % |
Universität Hamburg | 15 | 4 | 27 % |
Universität Leipzig | 12 | 4 | 33 % |
Universität Frankfurt | 12 | 3 | 25 % |
Universität München | 9 | 1 | 11 % |
Universität Breslau | 8 | 3 | 38 % |
Universität Freiburg | 8 | 2 | 25 % |
Universität Heidelberg | 7 | 1 | 14 % |
Universität Kiel | 6 | 1 | 17 % |
Universität Gießen | 6 | 1 | 17 % |
Bei der Aufschlüsselung der emigrierten Physiker nach deren Fachgebieten lassen sich Schwerpunkte erkennen, die in Teilen die These eines „Brain Drain“ unterstützen. Nach Personenzahlen waren vor allem die neuen Fachgebiete Kern- und Teilchenphysik sowie die Quantentheorie von der Emigration betroffen, letztere mit einem Emigrationsverlust von 25 %. Traditionelle Forschungsbereiche wie die technische Mechanik oder die Akustik weisen dagegen nur einstellige Emigrationsquoten auf. Die Gründe, warum „neuere“ Fachgebiete deutlich stärker betroffen waren, sind nicht abschließend geklärt. Erklärungsversuche dazu liegen meist auf subdisziplinengeschichtlicher bzw. psycho-sozialer Ebene. Sie ziehen eine Verbindung der zu einem großen Teil jüdischen Physiker-Emigranten von einer nicht vollständigen gesellschaftlichen Integration zu einer vermehrten Bereitschaft in der Wissenschaft, die klassischen Normen und Regeln zu hinterfragen und sich deshalb vermehrt mit neuen und andersartigen Themen zu beschäftigen (Fischer 1988).
Fachgebiet | Anteil der Emigranten |
---|---|
Quantentheorie | 25 % |
Atome und Moleküle | 21 % |
Kernphysik und Radioaktivität | 19 % |
Festkörper- und Hydrophysik | 14 % |
Spektroskopie | 14 % |
Mechanik | 11 % |
Fluidmechanik | 10 % |
Elektromagnetismus | 8 % |
Starrkörpermechanik | 7 % |
Technische Mechanik | 6 % |
Akustik | 4 % |
Nicht nur im Deutschen Reich sondern auch nach dem „Anschluss“ in Österreich wurden die Rassegesetze der Nationalsozialisten umgesetzt, was auch die Physik an den dortigen Hochschulen betraf. So wurden von den 28 an der Universität Wien beschäftigten Professoren und Dozenten der Physikalischen Institute 8 entlassen (29 %), wovon 6 emigrierten (21 %) (Bischof et al. 2003: 179.).
Eine Möglichkeit, den Emigrationsverlust nicht anhand von Personenzahlen zu beziffern, zeigt Klaus Fischer 1988 auf: Die Analyse von Zitationen relevanter Forschungsartikel im jeweiligen Fachgebiet zeigt Wissenschaftler mit Relevanz auf. Von den 26 vor 1933 am häufigsten zitierten Kernphysikern beispielsweise sind 13 nach 1933 emigriert, was einem Anteil von 50 % entspricht (Fischer 1988).
Die Physik war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein bedeutendes Forschungsfeld. Die Formulierung neuer Grundlagen wie der Quanten- und der Relativitätstheorie sowie die Entdeckung der Radioaktivität waren von großer Bedeutung für die weitere Entwicklung der Disziplin. Das Zentrum der physikalischen Forschung zu dieser Zeit bildete Europa, einer der Schwerpunkte der deutschsprachige Raum. Wissenschaftler wie Albert Einstein oder Max Planck waren nicht nur in Forschungskreisen sondern auch in der Öffentlichkeit bekannt. Bedingt durch die Wirtschaftskrise in den 1920er Jahren wurden die staatlichen Aufwände für die Wissenschaft reduziert, auch die Physik war in einer schlechten finanziellen Lage. Absolventen fanden nur wenige Arbeitsplätze in der Forschung oder auch in der Industrie. Die führende Stellung der deutschen physikalischen Forschung begann zu schwinden, als wichtige Entdeckungen im Bereich der Kernphysik im Ausland gemacht wurden. Besonders die Ausstattung der deutschen Labore konnte mit denen in den Vereinigten Staaten oder Großbritannien teils nurmehr schwer konkurrieren (vgl. Fischer 1991: 38.)
Der Zustand der Physik nach dem Ersten Weltkrieg in Österreich war von einer Stagnation gekennzeichnet. Durch die geringe Anzahl von neu eingestelltem Forschungspersonal und der Abwanderung mehrerer Wissenschaftler blieben zahlreiche Stellen in der physikalischen Forschung längere Zeit unbesetzt oder wurden mit anderen Lehrstellen zusammengelegt. Dies deckt sich mit der Entwicklung in anderen wissenschaftlichen Disziplinen in Österreich. Dennoch konnten österreichischen Physiker teils internationale Erfolge aufweisen und war auch für Studierende in den 1930er Jahren attraktiv (vgl. Bischof et al. 2003: 9).
Die Migration beziehungsweise Emigration für die Physik lässt sich wie bei den anderen Disziplinen im Wesentlichen in drei Phasen einteilen. Die spezifischen Gegebenheiten für die Auswanderung der deutschsprachigen Physiker vor der „Machtübernahme“ der Nationalsozialisten im Deutschen Reich, ab der Machtübernahme und ab dem „Anschluss“ Österreichs und des Sudetenlandes zeigen die folgenden Abschnitte.
Die Auswanderung vor 1933 stellt in Teilen eine freiwillige Ausreise dar. Bereits vor 1933 wurden an den deutschen Universitäten mehr Physiker ausgebildet als Stellen verfügbar waren. Deshalb migrierten einige Physiker für einen Arbeitsplatz ins Ausland. Zusätzlich war besonders in der Physik der internationale Austausch vergleichsweise hoch. So gab es in den 1920er Jahren häufig Auslandsaufenthalte deutscher (Post-)Doktoranden in Forschungszentren wie in Großbritannien und den USA; umgekehrt promovierten etwa amerikanische Physiker in Deutschland und anderen europäischen Ländern oder verbrachten dort Postdoc-Aufenthalte. Diese Art des Forschungsaustausches war aber hauptsächlich zeitlich befristet. Die finanzielle Förderung dieser Forschungsaufenthalte erfolgte häufig durch Organisationen wie die Rockefeller Foundation oder das Guggenheim Fellowship Program, erstere sollte später auch die Emigration von Physikern und anderen Wissenschaftlern unterstützten (Hilfsorganisationen). Die Anzahl der dauerhaft im Ausland lebenden deutschen Physiker blieb aber trotz der schlechten Arbeitssituation in Deutschland vor 1933 gering, war aber nicht zu vernachlässigen (vgl. Wolff 1993).
Ähnlich wie im Deutschen Reich gab es auch im Österreich der Zwischenkriegszeit ein Mangel an Arbeitsstellen für Physiker. Viele der später bedeutenden Physiker wanderten nach Deutschland, einige in die Sowjetunion aus. Außerdem waren auch in Österreich bereits vor dem „Anschluss“ antisemitische Ressentiments vorhanden, die beispielsweise Habilitationen von mehreren jüdischen Physikern scheitern ließen, was zu deren Emigration führte, um ihre wissenschaftliche Karriere fortzuführen (Bischof et al. 2003: 9).
Bereits kurz nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten wurden erste Maßnahmen ergriffen, um den Beamtenapparat des Deutschen Reiches im ideologischen Sinne umzugestalten. Mit der Verabschiedung des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ im April 1933 wurden „rassisch“ oder politisch unliebsame Beamte in der Verwaltung und den Hochschulen – und damit auch an den physikalischen Instituten – in den Ruhestand versetzt. Betraf die erste Ausführung des Gesetzes zunächst nur verbeamtete Professoren wurde es kurze Zeit später auch auf nichtbeamtete Professoren und Privatdozenten ausgedehnt. Nach dem Gesetz waren „Nichtarier“ nicht nur Menschen jüdischen Glaubens, sondern auch solche mit jüdischen Eltern oder Großeltern. Ausnahmen galten nur für ehemalige Frontkämpfer und langjährige Beamte. Betroffene Physiker konnten ihre Arbeit im Deutschen Reich nicht weiter fortführen. Zunächst versuchten viele, die Arbeit außerhalb der Universitäten zum Beispiel in der Industrie fortzuführen, was aber immer schwieriger wurde. Es folgten erste Emigrationen. Einige Physiker verzichteten explizit auf die Ausnahmeregelung für Frontkämpfer und legten ihre Ämter aus Protest gegen die antijüdischen Gesetze nieder, darunter der Göttinger Physiker und Nobelpreisträger James Franck und der Rektor der Technischen Hochschule in Stuttgart, Peter Paul Ewald. Namhafte Physiker emigrierten deshalb in das Ausland (wie Hans Bethe oder Max Born) oder kehrten von einem Auslandsaufenthalt nicht mehr nach Deutschland zurück (wie Albert Einstein) (siehe dazu z.B. Wolff 1993).
Mit dem „Reichsbürgergesetz“ von 1935 verschärfte sich die Situation weiter. Als Beamte waren nur noch Nichtjuden in der Definition der Nationalsozialisten zugelassen, wobei die Ausnahmeregelungen für Frontkämpfer oder langjährige Beamte nicht mehr angewandt wurden. 1937 verschärfte das „Deutsche Beamtengesetz“ die Bedingungen für Beamte abermals, da die Einschränkungen für „Nichtarier“ nicht nur für den Beamten selbst, sondern nun auch für den Ehegatten galten. Es war ihnen nun auch verboten, wissenschaftliche Einrichtungen zu besuchen, weshalb sie die Forschungsarbeit in der Physik niederlegen mussten, die hauptsächlich an staatlichen Instituten stattgefunden hatte. Oft wird auf die Bevorzugung der nationalsozialistisch geprägten „Deutschen Physik“ hingewiesen, die sich beispielsweise gegen die Relativitätstheorie stellte. In Wissenschaftskreisen fand das jedoch nur wenig Zuspruch, insbesondere nachdem ab 1937 eiskalte Pragmatiker wie z.B. Rudolf Mentzel zunehmend die Oberhand über die NS-Ideologen der „Deutschen Physik“, Lenard und Stark, gewonnen hatten (siehe dazu z.B. Hentschel (Hrsg.) 1996).
1938 verschärfte sich die Lage im Deutschen Reich weiter. Viele der „rassistisch“ oder politisch betroffenen Physiker war zu diesem Zeitpunkt bereits emigriert. Die wenigen, die sich aus verschiedenen Gründen noch in Deutschland befanden, waren nun gezwungen, schnellstmöglich das Land zu verlassen. Ausnahmen betrafen im Wesentlichen nur noch rüstungsrelevante Forschung. Spätestens mit dem Novemberpogrom war den noch in Deutschland lebenden Juden das Ausmaß der nationalsozialistischen Verfolgung bewusst. Die österreichische Kernphysikerin Lise Meitner etwa konnte im letzten Moment noch aus Berlin nach Schweden emigrieren (Fischer 1991: 68).
Die Emigration stellt insofern eine Änderung dar, da mit dem „Anschluss“ Österreichs und des Sudetenlandes die dortige Bevölkerung und damit auch die dortigen Physiker von der nationalsozialistischen Gesetzgebung des Deutschen Reiches betroffen waren. War zwar eine Benachteiligung der jüdischen Bevölkerung bereits davor in Österreich vorhanden, aber mit dem „Anschluss“ wurden die antisemitischen Gesetze nun vollständig umgesetzt. Im Fall der Physik wurden 1938 elf Professoren entlassen, die mehrheitlich in das westeuropäische Ausland emigrierten. Die Emigranten waren dabei nur in geringem Umfang auf die Hilfe von Hilfsorganisationen angewiesen, um im Immigrationsland Fuß zu fassen. Unter dem Lehrpersonal der österreichischen Universitäten war bei den Assistenten der Anteil derer mit jüdischer Herkunft bei 15 %, die meist bereits vor der Angliederung Österreichs nicht mehr an den Universitäten arbeiteten (Bischof et al. 2003: 9 und 24f.).
Die Emigration von zahlreichen Physikern aus Deutschland und Österreich hatte Folgen für die beiden Länder wie auch für die Zielländer. Wurde die Emigration anfangs als Hauptgrund für den Verlust der Vormachtstellung Deutschlands und des Aufstiegs der Vereinigten Staaten von Amerika in der Physik gesehen, muss diese Aussage relativiert werden, da diese Entwicklung sich in vielen Bereichen bereits vor 1933 aus ganz anderen Gründen angedeutet hatte.
Die Emigration der Physiker aus dem Deutschen Reich wird oftmals als Ursache dafür gesehen, dass Deutschland seine Führungsrolle in der physikalischen Forschung verloren hat. Tatsächlich fanden beide Entwicklungen etwa zeitgleich statt, jedoch ist nicht eindeutig auszumachen, was Ursache und was Wirkung war. Fakt ist, dass sich bereits vor 1933 die Forschungen an neuen Themen der Physik ins Ausland verschoben, da dort die finanziellen Mittel und die Ausstattung mit Laborgeräten oftmals deutlich besser war als im Deutschen Reich. Die „Machtergreifung“ 1933 führte neben der Emigration vieler – auch wichtiger – Physiker aus rassistischen oder politischen Gründen zu einer Beeinflussung der Wissenschaft weg von theoretischen hin zu eher experimentellen Forschungen. Dennoch wurde schwerpunktmäßig anwendbare Forschung gefördert, die einen Vorteil im Hinblick auf die Rüstung versprach. Trotz dessen blieben auch die deutschen Forscher zumindest bis zu Beginn des Krieges mit ihren Kollegen im Ausland in Kontakt und an aktuellen Forschungsergebnissen beteiligt. Insbesondere die damals aktuellen Forschungsgebiete wie Quantentheorie und Kernphysik wurden in Deutschland zwar weiterhin stark beachtet; eine politisch erzwungene Abkehr wurde nicht vollständig durchgesetzt. Dennoch verlagerten sich die Forschungszentren außerhalb des deutschsprachigen Raumes, vor allem in die Vereinigten Staaten, nach Großbritannien oder auch in die Sowjetunion, die alle vom Wissen der Emigranten profitieren konnten. Deutlich wird diese Entwicklung in den Publikationsanteilen zur Kernphysik: War der Anteil deutscher Artikel zur Kernphysik 1935 bei 28 %, sank er 1939 auf nunmehr 14 %.( Fischer 1991: 38ff.).
Die Physik war auch nach 1933 bis zum Kriegsanfang 1939 weiterhin international vernetzt. Das Zentrum der Forschung hat sich jedoch von Deutschland in die Vereinigten Staaten verlagert, wobei neue Erkenntnisse zumindest bis 1939 in Deutschland aufgenommen wurden und auch umgekehrt aus Deutschland in die USA hin verbreitet wurden (so etwa die Entdeckung der Kernspaltung durch Hahn und Strassmann im Winter 1938).
Die Möglichkeiten für emigrierte Physiker in den USA waren deutlich besser als in anderen Ländern. Denn sie verfügten bereits in den 1930er Jahren über eine große Zahl von Universitäten und Hochschulen wie auch über mehrere aufstrebende Forschungszentren der Physik. Bereits vor der durch die Nationalsozialisten ausgelösten Emigration der Wissenschaftler waren diese Hochschulen an wissenschaftlichem Personal aus Europa interessiert. Die Vereinigten Staaten waren bereits vor den 1930er Jahren an einer Expansion der Forschung interessiert, die mit einer Vergrößerung des Lehr- und Forschungspersonals wie auch mit der Integration der theoretischen Forschung in die eher experimentelle einherging. So unterstützte die Rockefeller Foundation finanziell den meist temporären Aufenthalt von Postdoktoranden und Professoren aus Europa und später auch die dauerhafte Besetzung von Stellen mit ebendiesen. Gleichzeitig ermöglichte die Foundation auch den Aufenthalt amerikanischer Wissenschaftler in den Forschungszentren in Europa, was sowohl zur Beschäftigung der Wissenschaftler mit den aktuellsten Forschungsthemen wie auch zur Knüpfung von Kontakten beitrug. Bei der Emigration ab 1933, die zunächst hauptsächlich nach Großbritannien erfolgte, unterstützte der Academic Assistance Councildie Weiteremigration von Wissenschaftlern in die Vereinigten Staaten, etwa durch die Übernahme der Reisekosten. Auch die Universitäten in den USA strebten ab 1933 selbst die Anstellung prominenter Physiker an, die von den Rassegesetzen betroffen waren. Mit der Emigration einher ging die weitere Verschiebung der physikalischen Forschung von Europa, vor allem Deutschland, in die USA. Dass die Emigranten einen Anteil daran hatten, ist offensichtlich. Ob jedoch die Emigration der wesentliche Grund der Verschiebung war, ist umstritten. Vor der Emigration deutschsprachiger Physiker in die USA war die Physik dort experimentell bestimmt. Es gab nur sehr vereinzelt Theoretiker und auch Fachrichtungen wie die Quantenphysik waren nur von sehr wenigen Wissenschaftlern von Interesse. Entsprechend wurde das Niveau der Physik bis in die 1920er als relativ niedrig empfunden. So wurde bereits zu dieser Zeit versucht, mit Hilfe der Rockefeller Foundation theoretische Physiker anzuwerben. Mit der Gewinnung von namhaften Physikern, darunter Albert Einstein, Hans Bethe und Otto Stern, und den erheblichen finanziellen Mitteln konnte die Physik in den Vereinigten Staaten zu einer international führenden Stellung kommen. Zusätzlich zur finanziellen Ausstattung der physikalischen Forschung waren auch umfangreiche Publikationsmöglichkeiten vorhanden, die die internationale Bekanntmachung und den Austausch neuer Erkenntnisse ermöglichten. Auch die Verzahnung der institutionellen Forschung mit der Industrie in den Vereinigten Staaten ermöglichte eine Steigerung der Forschungsleistung. Entsprechend waren die USA durch die zahlreichen und guten Möglichkeiten als Zielland für deutschsprachige Physikemigranten logisch und wurden entsprechend häufig – teils nach Zwischenstationen in anderen Ländern – als Emigrationsziel gewählt (vgl. Hoch 1983: 225ff., Holton 1984). 155 der 222 Physiker aus Röder & Strauss (Hrsg.) 1983 wählten die USA früher oder später als Zielland (dies entspricht 70 % der emigrierten Physiker).
Wie in anderen Ländern auch hatte Großbritannien Anfang der 1930er Jahre mit einer wirtschaftlichen Depression und hohen Arbeitslosenzahlen zu kämpfen. Gleichzeitig war jedoch die Physik in Großbritannien im internationalen Vergleich auf einem hohen wissenschaftlichen Niveau. Ein wichtiges Zentrum für die physikalische Forschung war Cambridge. Durch diesen guten Ruf der Physik war Großbritannien zunächst ein bevorzugtes Ziel deutschsprachiger Emigranten, die oftmals mit der Unterstützung von Hilfsorganisationen wie dem Academic Assistance CouncilForschungsstellen fanden. Das große Interesse nach unbefristeten Arbeitsplätzen in der Forschung für emigrierte Physiker wurde jedoch nicht befriedigt. Von 165 Physikern, die beim SPSL (der Nachfolgeorganisation des AAC) registriert waren, wurden 67 britische Staatsbürger, was eine unbefristete Arbeitsstelle voraussetzte. 3 erhielten eine unbefristete, 43 eine befristete Anstellung, wovon aber 16 nach Ende des Zweiten Weltkrieges unbefristet angestellt wurden. 32 Physiker emigrierten – oft bereits nach wenigen Jahren – weiter vor allem in die Vereinigten Staaten. Unter diesen „Weiteremigrierten“ sind berühmte Physiker wie Albert Einstein, Erwin Schrödinger und Hans Bethe. Hauptgrund der in Bezug auf die Anstellung Unzufriedenheit der Emigranten war die nur „auf kurze Sicht“ ausgerichtete britische Forschungspolitik, die in den Augen der Betroffenen eher aus wohltätigen Gründen denn aus Forschungsinteresse die deutschsprachigen Physiker aufzunehmen schienen. Im Gegensatz dazu waren viele Physiker mit ihrer privaten Situation durchaus zufrieden und strebten einen längerfristigen Aufenthalt in Großbritannien an. Was das verhinderte, waren zusätzlich die strukturellen und sozialen Bedingungen, die auch die Physik betrafen. So waren nur wenige Stellen für Physiker vorhanden, da sowohl die Anzahl an physikalischen Instituten als auch die Zahl der Arbeitsplätze im Vergleich zum Deutschen Reich sehr gering war. Denn die Wissenschaft war auf die Lehre von wenigen Menschen aus der „upper class“ ausgerichtet und nicht auf eine große Anzahl an Studierenden. Für die vorhandenen, Stellen bewarben sich oft deutsche Physiker, die dafür eigentlich überqualifiziert waren, was den Unmut der Briten hervorrief. Die Anstellung wurde aber insofern reglementiert, dass Briten oder Physiker aus den Staaten des Commonwealth bei der Vergabe bevorzugt wurden. Auch in der Industrie wurden vorhandene Stellen bevorzugt an Briten vergeben, denn bei der Einstellung von Nichtbriten musste nach geltenden Vorschriften in gleichem Maße Briten eingestellt werden. Diese Linie folgte der öffentlichen Meinung, nach der zuerst die hohe Arbeitslosigkeit der Landsleute reduziert werden musste. Zusätzlich dazu wurde vermieden, dass sich Emigranten vor allem geographisch konzentrierten, da diese zu großen Teilen jüdisch waren und antisemitische Ausschreitungen befürchtet wurden (Hoch 1983: 219ff.).
Die Sowjetunion wurde trotz vielfältiger Kontakte innerhalb der Physik und einer aufstrebenden physikalischen Forschung nur von wenigen Physikern zum Zielland der Emigration vor dem Nationalsozialismus in Deutschland und Österreich. Die kulturellen Unterschiede Russlands zu (West-) Europa waren hauptsächlich religiös und auch ethnisch geprägt. Dennoch versuchten zunächst die russischen Zaren, sich Europa anzunähern. Aus wissenschaftlicher Ebene war ein wichtiger Meilenstein die Gründung der Russischen Akademie der Wissenschaften in Sankt Petersburg 1724, die bereits international aufgestellt war und ab dem 20. Jahrhundert auch der Physik internationalen Austausch bot. Bereits im vorrevolutionären Russland wurde die Disziplin Physik aufgebaut. Nach einem kurzen Einbruch während des Bürgerkriegs förderte die Sowjetmacht Anfang der 1920er Jahre sowohl den Austausch russischer Physiker mit dem Ausland, inklusive mehrmonatiger Forschungsaufenthalte, als auch der Besuch von Wissenschaftlern in Russland. Die Machtübernahme Stalins hat jedoch zur Folge, dass sich ab den 1930er Jahren eine ausländerfeindliche Stimmung breit machte. Wissenschaftler wurden von kriegswichtigen Forschungen ausgeschlossen, Visa und Aufenthaltsgenehmigungen waren für Ausländer schwer zu bekommen. Die sowjetische Regierung agierte immer autoritärer. So war die Sowjetunion trotz Forschungszentren innerhalb der Physik wie in Moskau, Leningrad oder Charkow das Ziel nur weniger Emigranten. Mit dem „stalinistischen Terror“ wurde für Ausländer wie auch für russische Wissenschaftler die Forschung zunehmend erschwert (Hoch 1983: 219ff.).
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Nationalsozialismus in Deutschland remigrierten nur sehr wenige Wissenschaftler zurück in ihre alte Heimat. Für die Physik gilt das wie für andere (Natur-) Wissenschaften. Die Hauptgründe für diese geringen Zahlen liegen im Wesentlichen an den kriegsbedingt mangelhaften Forschungsmöglichkeiten in Nachkriegsdeutschland aus wissenschaftlicher Sicht. Ferner lehnten viele Emigranten durch die eigenen Erfahrungen und die anderer von antisemitischen Ressentiments durch nationalsozialistische Studenten bis hin zum Holocaust eine Rückkehr nach Deutschland ab. Viele hatten sich nach den Jahren im Ausland eine neue – oftmals bessere – Position aufgebaut und sich in ihrer neuen Heimat akkulturiert und hatten so keine Notwendigkeit nochmals zu migrieren (Fischer 1991: 68).
Die Remigrationsquote österreichischer Physiker war gering, jedoch in der Physik höher als in anderen Disziplinen. Von den 8 emigrierten Professoren und Dozenten der Universität Wien kehrten nach dem Krieg 6 wieder nach Österreich zurück und wurden wieder in ihre vorherige Stellen beziehungsweise in vergleichbare eingesetzt. Bemerkenswert ist, dass alle ordentlichen und außerordentlichen Professoren remigrierten, jedoch nur einer von drei Dozenten. Die Universität in Wien zeigt eine auffallend hohe Remigrationsquote (Bischof et al. 2003: 179).
Bischof, Brigitte et al.: Aus Österreich emigrierte Physiker und Techniker: Individuelle Erfahrungen und kollektive Verläufe 1930-1955, Graz & Wien: Selbstverlag 2003. von Ferber, Christian: Die Entwicklung des Lehrkörpers der deutschen Universitäten und Hochschulen 1864–1954, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1956. Fischer, Klaus: The operationalization of scientific emigration loss 1933-1945: a methodological study on the measurement of a qualitative phenomenon, Historical Social Research 13 (1988): 99-121. Fischer, Klaus: Die Emigration von Wissenschaftlern nach 1933, Möglichkeiten und Grenzen einer Bilanzierung, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 39 (1991): 535-549. Fischer, Klaus: Die Emigration deutschsprachiger Physiker nach 1933, Strukturen und Wirkungen, in: Herbert A. Strauss et al. (Hrsg.): Die Emigration der Wissenschaften nach 1933, Disziplingeschichtliche Studien, München: Saur 1991, S. 25-72. Hartshorne, Edward: The German Universities and National Socialism, Cambridge, Mass. Harvard Univ. Press, 1937. Hentschel, Klaus (Hrsg.) & Ann M. Hentschel (transl. & ed. ass.): Physics and National Socialism. An Anthology of Primary Sources, Basel: Birkhäuser, 1996. Hoch, Paul K.: The Reception of Central European Refugee Physicists of the 1930s, U.S.S.R., U.K., U.S.A., Annals of Science 40 (1983): 217-246. Holton, Gerald: The migration of physicists to the United States, Bulletin of the Atomic Scientists 40, 4 (1984): 18-24. Röder, Werner & Herbert A. Strauss: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Band 2: The Arts, Science and Literature, München: Saur, 1983. Stuewer, Roger H.: Nuclear Physicists in a New World, The Émigrés of the 1930s in America, Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 7 (1984), S. 23-40. Wolff, Stefan: Vertreibung und Emigration in der Physik, Physik in unserer Zeit 24,6 (1993): 267-273.