Frankreich als direkter Nachbar, Kriegsgebiet und Weiterreiseland spielt eine wichtige Rolle in der Flüchtlingsgeschichte vor und während des zweiten Weltkrieges. Alleine zwischen 1933 und 1939 kamen jedes Jahr ungefähr 10.000 Flüchtlinge ins Land (LEMO 2021). Ungefähr 285.000 Emigranten durchliefen, die Frankreich zwischen 1933 und 1942 (dem Jahr, in dem die Vichy-Regierung ihre Deportationen begann) zumindest als eine Station ihrer komplexen Emigrationswege Nogarède 2015: 1.) Knapp 1600 Emigrationen in Frankreich werden im Biographischen Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945 aus den Bereichen Wissenschaft, Kunst und Politik aufgelistet – damit liegt es damit auf Platz 1 der europäischen Emigrationsländer. Ungefähr 57% aller deutschsprachigen Emigrant/innen in diesem Zeitraum waren zumindest kurzzeitig in Frankreich, allerdings reisten viele von ihnen nach kurzer Zeit in andere Exilländer weiter (Nogarède 2015). Zwischen 1933 und 1940 haben sich mehr als 150.000 deutsche Emigranten zeitweise in Frankreich aufgehalten. Zu jeder Zeit waren mindestens 20.000 Emigrant/innenim Land (LEMO 2021), allerdings auch zu keiner Zeit mehr als 60.000 auf einmal (Fabian & Coulmas 1978: 11f.). Frankreichs Relevanz entsteht auch durch die geographische Lage und die historische Möglichkeit aus Europa zu fliehen. Aufgrund des Verlaufs der „Übernahme“ wird nur bedingt auf die Komplexität der politischen Situation eingegangen werden. Knapp ein Viertel aller Emigranten in Frankreich waren im künstlerischen Bereich tätig, ebenso wie aus dem öffentlichen Dienst und der Politik. Eine vergleichsweise geringe Anzahl an Naturwissenschaftlern (10% aller Naturwissenschaftler) wählte eine Emigrationsroute durch Frankreich, u.a. weil es für sie dort keine ausreichenden Arbeitsmöglichkeiten gab.
Jahr | Geschätzte Zuwachszahl der Emigranten nach Frankreich nach Strauss 1983: XX |
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1933 | 8.900-9.500 |
1934 | 10.000-12.000 |
1935 | ca. 2.400-3.000 von obigen Personen emigrierten weiter in andere Länder) 5.000-6.000 Saarflüchtlinge nach Eingliederung des Saarlands ins Deutsche Reich |
1936 | 9.000 , von denen 2.000 illegal emigriert waren |
1937 | 7.000 von denen 2.500 bei der Emigration unterstützt wurden |
1938 | ca. 10.000 österreichische Flüchtlinge seit Anfang 1938 13.500 bis Dez. 1938 und Januar 1939 |
1939 | Seit Sept. 1939 kaum noch Zuwachs an Emigranten |
1940 | Seit der Niederlage Frankreichs ab 22.6.1940: Auslieferungsabkommen mit D |
1941 |
Alleine zwischen April und November 1933 registrierte die Pariser Präfektur und das Departement de Seine 7.195 deutsche Flüchtlinge, darunter 425 Künstler, 424 Angehörige freischaffender Berufe, 904 Intellektuelle (inklusive 734 Studenten), 1.189 Gewerbetreibende und Vertreter, 241 Handwerker, 980 Angestellte, 1.085 Personen mit anderen Berufen und 1.830 ohne Berufsangabe (Schiller et al. 1981: 58f. sowie Franke 2000 über Paris als Emigrations-zentrum, das in den ersten Jahren über 80% aller Emigranten in Frankreich aufnahm). Von den bis zu 26.000 deutschen Flüchtlingen nach Frankreich hatten 1935 bereits 9.000 das Land wieder verlassen (Fabian & Coulmas 1978: 11f.) Für 1936 nannte das Völkerbundkomitee für internationale Emigrantenhilfe dann 80.000-100.000 deutsche Flüchtlinge, von denen ca. 40.000 bereits seit 1933 im Land waren, dann zum Teil aber auch rasch wieder weiterzogen, so dass im Frühjahr 1935 geschätzt 25.000 bis 35.000 deutsche Flüchtlinge im Land waren. Von diesen waren ca. 7.000-9.000 politische Flüchtlinge (also ein recht hoher Anteil), von denen sich bei Kriegsanbruch noch etwa 6.000 bis 8.000 im Land aufhielten, weswegen Frankreich auch eines der wichtigsten Länder für die politische Emigration war (Schiller et al. 1981: 59). Nur ein kleiner Teil jener Flüchtlinge in Frankreich, durchschnittlich etwa 10% in der Periode von 1933 bis 1939, hatte eine reguläre Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis (Nogarède 2015), die anderen waren entweder illegal oder mit Touristenvisa eingereist, wurden aber bis 1938 mehr oder weniger geduldet und bekamen oft nachträglich eine Aufenthaltsgenehmigung.
Jahr | Emigrationen | Als erstes Emigrationsland | Als zweites Emigrationsland | Als drittes Emigrationsland |
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1933 | 548 | 409 | 117 | 22 |
1934 | 87 | 44 | 30 | 13 |
1935 | 153 | 64 | 70 | 19 |
1936 | 55 | 15 | 20 | 20 |
1937 | 69 | 17 | 27 | 25 |
1938 | 363 | 168 | 97 | 98 |
1939 | 169 | 49 | 44 | 76 |
1940 | 65 | 5 | 23 | 37 |
1941 | 5 | 4 | 1 | |
Einzelfälle ab 1942 (bis 1945) | 30 | 6 | 24 | |
Ohne Jahreszahl | 72 | 28 | 22 | 22 |
Gesamt | 1616 | 803 | 456 | 357 |
Tabelle mit den im Biographischen Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945 aufgeführten Emigrationen nach Frankreich aus Wissenschaft, Kunst und Politik
Schon vor 1933 lockte Frankreich zur Migration. Idealisierte Vorstellungen von Paris, der Südküste Frankreichs, dem Essen und der Kunstliebenden Oberschicht sorgten für die Auswanderung vereinzelter Gelehrter; insbesondere Künstler und Kunsthändler versuchten ihr Glück in Frankreich. Bereits schon 1932 wurde die Auswanderung von deutscher Seite aus mit 25% des Vermögens besteuert.
Ein kleiner Teil (rund 10%) der Emigranten zwischen 1933 und 1939 hatten eine gültige Arbeitserlaubnis oder eine Aufenthaltsgenehmigung, was besonders durch die verschärften Einwanderungsgesetze im Juli 1933 erforderlich war (Nogarède 2015). Nur noch Besitzer eines deutschen Passes sollten eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen. Grund hierfür war die große Emigrantenwelle, welche durch das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufs-beamtentums“ und die damit verbundene Propaganda rechter französischer Gruppen ausgelöst wurde. Über die folgenden Jahre 1934 und 1935 wurde die Arbeitserlaubnis in mehr und mehr Berufsgruppen (darunter Jura und Medizin) streng reguliert und an einen französischen Arbeitsvertrag geknüpft, wofür viele deutsche Flüchtlinge ihre Kontakte zu ihren französischen Kollegen nutzen mussten. Mit dem Wechsel der Regierung 1936 entspannte sich die Situation etwas. Obwohl die Gesetze von 1934 und 1935 in Kraft blieben, wurde die Vollstreckung besonders sorgfältig durchgeführt. Durch die Beschränkungen der Arbeitsmöglichkeiten waren viele Emigranten auf Hilfe angewiesen. Hilfsorganisationen vermittelten Arbeitsstellen oder halfen mit einem kleinen Auskommen aus. Auch war es üblich, dass verdienende Emigranten arbeitslosen Kollegen Obdach oder Finanzhilfen gewährten. Besonders die „high society“ der französischen Bevölkerung, welche die deutsche Kultur gut kannte, machte es zu einem Trend, berühmten oder wichtigen Emigranten zu helfen.
Nach dem erzwungenen politischen Machtwechsel in Frankreich 1938 und dem „Anschluß“ von Österreich ans „Großdeutsche Reich“ verschärften sich die Regulierungen bezüglich der Emigranten nochmals (Goldner 1977: 33-64). Flüchtlinge durften ab diesem Zeitpunkt keinerlei politische Agenda mehr vertreten; das Missachten der Regeln wurde unter eine hohe Geld- oder Freiheitsstrafe gestellt. „Unerwünschte Ausländer“ durften nun in Internierungslagern untergebracht werden. Ab dem 4. September 1939 wurden „feindliche Ausländer“ (ca.15.000 Personen), zwischen 17 und 55 Jahren in 60 eigens dafür eingerichteten Lagern interniert, z.B. in „Les Milles“ in der Nähe von Aix-en-Provence, das Lion Feuchtwanger in seinem autobiographischen Werk „Unholdes Frankreich“ beschreibt. Die Emigranten stellten nach offizieller Begründung eine „Gefährdung für die nationale Sicherheit“ dar, da sich Nazispione unter ihnen verbergen konnten (Nogarède 2015). Der Emigrationsstrom nach Frankreich kam unter diesen Umständen natürlich zum völligen Erliegen.Mit der Westoffensive der Deutschen 1940 mussten die Emigranten weiter nach Süden oder Westen fliehen. Frankreich wurde Stück für Stück in das „Großdeutsche Reich“ eingegliedert und so entstand eine Art Spießrutenlaufen. Häufige Anlaufstelle der Emigranten war Marseille sowie das das Vichy-Frankreich. Von hier aus wurden häufig, auch durch Hilfsorganisationen unterstützt, Weiterreisen geplant (Loring 2018). Die Vichy-Regierung bot nicht lange vollständige Sicherheit und beugte sich des öfteren den „Befehlen“ der Nationalsozialisten. Häufig blieb daher nur noch die Möglichkeit der weiteren Flucht, sofern man konnte und noch die Energie dafür hatte; andere begingen Selbstmord oder wurden von den deutschen Besatzern bzw. von französischen Polizeikräften gefangen und nach Deutschland ausgeliefert, wo sie in Konzentrationslager überführt oder ermordet wurden.
Aufgrund der politischen Situation und den Kriegsverlauf war eine Weiterreise weit verbreitet. Die beiden, bereits oben genannten Möglichkeiten wurden häufig genutzt, um direkt in die USA bzw. nach Großbritannien zu emigrieren oder über Portugal oder Spanien weiter nach zum Beispiel Lateinamerika. Frühe Emigranten verteilten sich zunächst auch noch in die umliegenden europäischen Länder wie die Schweiz, die Beneluxländer oder Dänemark. Aufgrund des schwierigen Verlaufes in Frankreich ist bei den dort Gebliebenen eine Remigrationsrate recht hoch.
Jahr | Zahl der Remigranten | Verhältnis Remigranten zur gesamten Emigration |
---|---|---|
1946 - 1949 | 191 | 11,8% |
1950 - 1955 | 66 | 4% |
1956 + | 44 | 3% |
Ohne Jahreszahl | 12 | 1% |
Gesamt | 313 | 19,8% |
Tabelle mit den im Biographischen Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945 aufgeführten Remigranten aus Wissenschaft, Kunst und Politik welche während ihrer Emigration in Frankreich waren (doppelte Remigrationen sind möglich).
In ganz Westeuropa gab es 1947 noch etwa 95.000 Vorkriegsflüchlinge, darunter etwa 20.000 in Frankreich, von denen 7-8.000 aus Deutschland und Österreich stammten (Fabian & Coulmas 1978: 12).
Fabian, Ruth & Corinna Coulmas: Die deutsche Emigration in Frankreich, Paris: K. G. Saur 1978. Franke, Julia: Paris - eine neue Heimat? Jüdische Emigranten aus Deutschland 1933–1939, Berlin: Duncker und Humblot, 2000. Goldner, Franz: Die Österreichische Emigration 1938 bis 1945, Wien & München: Herold, 1977. Loring, Marianna: Flucht aus Frankreich 1940, Berlin: Fischer, 2018. Röder, Werner & Herbert A. Strauss (Hrsg.): Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933-1945, München: Saur 1980-83, Reprint 1999, insb. Bd. I: Politik Wirtschaft, Öffentliches Leben. Saint-Sauveur-Henn, Anne (Hrsg.): Fluchtziel Paris: die deutschsprachige Emigration 1933-1940, Berlin: Metropol 2002. Schiller, Dieter u.a.: Exil in Frankreich, Frankfurt am Main: Röderberg, 1981.
LEMO – Lebendiges Museum online – Exil in Frankreich, online seit 27.4.2021, online unter https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/etablierung-der-ns-herrschaft/exil-in-frankreich.html Annette Nogarède: Deutsche Emigration nach Frankreich 1933-40, Lernen aus der Geschichte, 26. Mai 2015, http://lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-und-Lehren/content/12424