Die Emigranten der Disziplin Medizin auszumachen ist schwierig. So zählen manche Quellen Mitarbeiter des Gesundheitswesens dazu, manche nicht. In Folge dessen muss immer betrachtet werden, ob Teil- und Randgebiete mitberücksichtigt werden oder nicht. In diesem Text sollen auch einige dieser Rand- und Untergruppierungen beleuchtet werden. Insgesamt muss man von einer Gesamtzahl von etwa 6.000 deutschsprachigen Medizinern ausgehen, die ab 1933 aus Deutschland bzw. ab 1938 aus Österreich emigrieren mussten (Kröner 1988: 86 bzw. 1989).
Wie in den meisten Bereichen der Gesellschaft, blieben auch jüdische Ärzte nicht von der nationalsozialistischen Propagandamaschinerie verschont. Ihnen wurde Faulheit und Geldgier vorgeworfen, aber auch gegen ihre Position als sogenannter Fabrikmediziner, „der in den meisten Fällen keine Praxis ausübte, sondern durch eine umfangreiche kaufmännische Propaganda- und Reisetätigkeit für einen Konzern tätig war“ [Wilhelm Michael, 1935], wurde gewettert. Die Volkszählung 1933 kam zu dem Ergebnis, dass rund 10% aller deutschen Ärzte jüdischer Abstammung seien. Mit Hilfe der am 1. März 1933 beschlossenen „1. Verordnung zur Neuordnung der Krankenversicherungen“ und einem Monat später dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ verloren viele verbeamtete jüdische Ärzte ihre Stellen. Durch die Ausnahmeregelungen (wie z.B. dem Behandeln in Lazaretten an der Front), konnten allerdings viele jüdische Ärzte ihre Zulassung noch behalten. Bis 1938 blieben rund 33% der Kassenärzte „nichtarisch“, durch die Approbation der 4. Verordnung zum nationalsozialistischen „Reichsbürgergesetz“ änderte sich dies (Doetz & Kopke 2014).
Jahr | Personen Gesamt | USA | Großbritannien | Schweiz | Frankreich | Palästina |
---|---|---|---|---|---|---|
1933 | 85 | 5 | 14 | 7 | 19 | 23 |
1934 | 20 | 9 | 1 | 3 | 0 | 13 |
1935 | 23 | 7 | 1 | 3 | 2 | 9 |
1936 | 25 | 12 | 4 | 1 | 2 | 6 |
1937 | 20 | 17 | 0 | 3 | 1 | 6 |
1938 | 86 | 47 | 25 | 6 | 15 | 9 |
1939 | 49 | 27 | 22 | 6 | 5 | 8 |
1940 | 6 | 21 | 1 | 0 | 1 | 2 |
1941 | 1 | 9 | 0 | 0 | 0 | 1 |
Einzelfälle ab 1942 (bis 45) | 1 | 0 | 0 | 2 | 0 | 2 |
Ohne Jahreszahl | 3 | 0 | 1 | 3 | 0 | 0 |
Gesamt | 319 | 154 | 70 | 34 | 45 | 79 |
Tabelle mit den im Biographischen Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945 aufgeführten Emigrationen aus der Berufsgruppe Medizin. Nur in der Spalte Personen gesamt werden Emigranten aufgeführt.
Eine besonders große Migrationswelle der Ärzte gab es vor der Machtübernahme nicht, mit einer Ausnahme. Insgesamt 30 Ärzte aus deutschsprachigen Ländern waren bis 1932 nach Palästina migriert. Häufig kamen sie mit sogenannten „Alijots“, der Migrationsbewegung jüdischer Einwanderer aus hauptsächlich Osteuropa. In andere Länder wie zum Beispiel die USA oder Großbritannien wurde auch vor 1933 aufgrund von guten Arbeitsangeboten migriert. Grund hierfür waren entstehende und sich verändernde Gesundheitssysteme, in welchen man die Expertise von deutschen Medizinern oder anderweitigen Bereichen des Gesundheitssystems brauchte und attraktive Arbeitsmöglichkeiten bot.
Diverse europäische Länder versuchten, die Zuwanderung durch Gesetze zur Ausübung des ärztlichen Berufs zu kontrollieren. Möglichkeiten hierbei waren (i) eine Reifeprüfung mit erneutem Studium, in Frankreich und der Schweiz, (ii) das nochmalige Ablegen einer Abschlussprüfung, in Belgien, Großbritannien, Italien, Niederlanden und Spanien, oder (iii)der Erwerb der Staatsangehörigkeit, in Frankreich, Luxemburg, Schweiz und Spanien. Auch in Palästina und den USA sah es grundlegend nicht viel anders aus. Bis 1935/36 wurden Ärzte und Zahnärzte noch mit offeneren Armen empfangen und ihnen neue Arbeitsmöglichkeiten gewährt. Häufig wurden Arztzulassungen oder Praxiserwerb mit einer gültigen Staatsbürgerschaft verknüpft. Durch die späteren Regularien konnten viele ehemalige Ärzte nicht mehr dorthin emigrieren. Ausnahmen bildeten hierbei Anhänger der sozialen Hygiene (social hygiene movement) nach Alfred Grotjahn und der Psychoanalyse (mental health). Beide Bereiche der Medizin waren vor allem in Deutschland gegründet und maßgeblich geprägt worden. In diesen Bereichen gab es Ausnahmeregularien in den Emigrationsländern und offene Stellen dort wurden oft mit deutschen Migranten besetzt.
Je länger die Ärzte in Deutschland blieben, desto schwieriger wurde es für sie, später in anderen Ländern Fuß zu fassen. Besonders Frankreich und die Schweiz sorgten für Probleme bei der Ausreise bzw. Emigration. Auch waren viele wichtige Positionen bereits besetzt worden, sodass es keine direkte Nachfrage nach Ärzten mehr gab. Auch bei privaten Praxen wurde der Erwerb einer Lizenz noch stärker reguliert als noch in den vorhergehenden Jahren. Ärzte warteten oft in Lagern auf eine Bewilligung der Asylanträge oder Durchreiseanträge wie viele ungelernte Emigranten auch. Vereinzelt wurden Ärzte oder Chirurgen bestimmter Bereiche durch Hilfsorganisationen durch die komplizierten Asylanträge begleitet, wenn diese Organisationen bestimmte Positionen zu schließen hatten.
Deutsche Ärzte die aus der sozialen Hygiene oder der Psychoanalyse konnten häufig fast ohne Unterbrechung ihre Arbeit in ihren neuen Heimatländern ausnehmen. Nicht selten wurden Absolventen der sozialen Hygiene gezielt angeworben und mit lukrativen Angeboten angelockt, wie beispielsweise Professuren an einer der Top-Universitäten in Cambridge, Yale, Paris, Genf, Moskau. Auch in staatlichen Einrichtungen oder privaten Instituten konnten die Emigranten ihre Expertise der Zusammenhänge zwischen Krankheiten und sozialen Lebensbedingungen einbringen. Ähnlich gefragt war man als Vertreter des Bereichs Psychoanalyse oder Mental Health. Viele der (vor allem) amerikanischen Psychiatrien suchten sich gezielt Emigranten aus diesem Bereich aus und warben diese schon in Deutschland ab oder halfen um die Emigration so schnell und einfach wie möglich zu machen. Für alle anderen galt, auch wenn sie die Emigration geschafft oder eine Zulassung erhalten hatten, dass sich ihre Situation schnell direkt verbesserte. Häufig warfen die neuen Praxen nicht genug ab, um überleben zu können und so musste entweder illegal bei Kollegen noch gearbeitet werden oder Alternativjobs gesucht werden. Die ehemalige stellvertretende Neuköllner Stadtärztin Käte Frankenthal musste neben der Arbeit in ihrer Praxis abends und nachts noch als Eisverkäuferin, Wahrsagerin und Handleserin arbeiten. Der Zahnarzt und Schriftführer des „Vereins sozialistischer Ärzte“ Ewald Fabian arbeitete in Prag und Paris illegal als Zahnarzt, konnte dies jedoch in seiner dritten und letzten Reisestation, Amerika, nicht mehr tun und dort nur noch als Packer arbeiten.
Viele der Emigranten konnten sich in den Zielländern ein neues Leben aufbauen; besonders Mediziner, welche in die USA oder nach Palästina emigriert sind waren häufig kein Teil der Remigration. Da in diesen Ländern dringend Mediziner gesucht wurden und diese schnell Arbeit gefunden haben, infolge dessen sich gut integrieren konnten, fühlten sich viele laut Erfahrungsberichten dort wohl. Lediglich diejenigen, die aufgrund des Krieges und sich in den Emigrationsländern ständig ändernde Gesetze und Regularien häufig von Land zu Land emigrieren mussten, waren des Öfteren Teil der Remigration nach Deutschland oder Österreich. Insgesamt kehrten nach 1945 nur rund 5% der emigrierten jüdischen Mediziner:innen in die Nachfolgestaaten des „Dritten Reiches“ zurück (Remigration) (Jütte 2011: 90).
Jahre | Zahl der Remigranten | Verhältnis Remigranten zur gesamten Emigration |
---|---|---|
1946 - 1949 | 11 | 3,5% |
1950 - 1955 | 3 | 1% |
1956+ | 1 | 0,3% |
Ohne Jahreszahl | 0 | 0 |
Gesamt | 15 | 4,8% |
Tabelle mit den im Biographischen Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945 aufgeführten Remigranten aus der Berufsgruppe Medizin (doppelte Remigrationen sind möglich).
Baader, Gerhard: Politisch motivierte Emigration deutscher Ärzte. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte [Weinheim: VCH] 7 (1984): 67-84.
Doetz, Susanne & Christoph Kopke: Die antisemitischen Kampagnen und Verfolgungsmaßnahmen gegen die jüdische Ärzteschaft seit 1933. In: Jüdische Ärztinnen und Ärzte im Nationalsozialismus, Berlin & Boston: De Gruyter 2014: 36-57.
Jütte, Robert: Die Vertreibung jüdischer und „staatsfeindlicher“ Ärztinnen und Ärzte. In: Robert Jütte (Hrsg.) Medizin und Nationalsozialismus. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen: Wallstein 2011: 83-93.
Kröner, Hans-Peter: Die Emigration deutschsprachiger Mediziner 1933-1945. In: Exilforschung 6 [text+kritik 1988]: 83-97.
---: Die Emigration deutschsprachiger Mediziner im Nationalsozialismus. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte [Weinheim 1989] 12 (1989) Sonderheft.
Kröner, Hans-Peter: Zwischen Arbeitslosigkeit und Berufsverbot: Die deutschsprachige Arzte-Emigration nach Palästina 1933 – 1945. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte [Weinheim: VCH] 14 (1991): 1 - 14.
Pearle, Kathleen: Ärzteemigration nach 1933 in die USA: Der Fall New York. In: Medizinhistorisches Journal 19 [Franz Steiner Verlag 1984]: 112-137.
Röder, Werner & Herbert A. Strauss (Hrsg.): Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933-1945, München: Sauer 1999, I Politik Wirtschaft, Öffentliches Leben.
Hendrik Uhlendahl *, Nico Biermanns, Janina Sziranyi , Dominik Groß: Success or failure? Pathologists persecuted under National Socialism and their careers after emigrating to the United States, Pathology - Research and Practice 218 (2021): 153315.
Anna E. von Villiez: Emigration jüdischer Ärzte im Nationalsozialismus, in:Jüdische Ärztinnen und Ärzte im Nationalsozialismus, Berlin: De Gruyter 2014: 190-202. https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783110306057.190/html
Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages: Jüdische Ärztinnen und Ärzte im Nationalsozialismus: Ausgrenzung, Entrechtung, Verfolgung, 04.10.2018, online verfügbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/585518/aa001bc743d58848b2323ccc1725c3be/WD-1-035-18-pdf-data.pdf