Die Ausreise aus Deutschland und die Einreise in andere Länder waren oft ein steiniger Weg. Diverse Einreisebestimmungen wie in der → USA oder später in den europäischen Nachbarländern wie zum Beispiel → Schweden oder die → Schweiz sorgten häufig für bürokratische und finanzielle Probleme, besonders in den späten 30er Jahren, in denen Überfahrten nach → Großbritannien oder → Lateinamerika seltener und schwieriger waren. Angekommen in neuen Ländern musste man sich um einen neuen Job, eine Wohnmöglichkeit und Genehmigungen kümmern, wie z.B. → Mediziner um ihre neue Approbation als Arzt, für die eine strenge neue Prüfung abzulegen war. Viele der Hilfsorganisationen der 1930er Jahre sorgen für eine Vereinfachung zumindest bei einem Teil dieser Probleme. Im kommenden Text werden drei besonders wichtige Hilfsorganisationen beispielhaft näher vorgestellt, aber es gab noch wesentlich mehr, welche alle größere oder kleinere Aufgabenbereiche in ihrer Tätigkeit sahen. Im „Report of the Committee for the Study of Recent Immigration from Europe“ (Davie 1947, Appendix A) werden alleine 200 regionale amerikanische Hilfsorganisationen aufgelistet (→Link auf pdf dieser Auflistung). Viele davon waren auf religiöse, politische oder fachliche Gruppierungen spezialisiert, um insonderheit diesen zu helfen. Diese Hilfsorganisationen vermittelten Kontakte, wenn man noch keine hatte, und sorgen für Arbeit innerhalb derselben Fachrichtung. Man kann die Hilfsorganisationen als Wegbereiter, aber auch als Schnittstelle zwischen den Emigranten und ihren neuen Ländern sehen. Häufig war ihre Gründung motiviert durch bereits eingegliederte Exilanten, Landesbürger oder Firmen/Institutionen mit besonderem Interesse an speziellen Fachbereichen oder Personengruppen; so der vielzitierte Ausspruch des Kunsthistorikers Walter William Spencer Cook (1888-1962):“ Hitler ist my best friend. He shakes the tree and I collect the apples.“ Obgleich es auch Hilfsorganisationen für Nicht-Gelehrte gab, besonders unter den religiös motivierten Organisationen, werden wir diese hier nicht betrachten. Generelle Zahlen zu den jeweils unterstützten Emigranten sind meist nur über eigene Veröffentlichungen zugänglich und so nur mit Vorsicht zu genießen, können aber in den heute frei zugänglichen Archivbeständen zumindest der großen Hilfsorganisationen auch gut überprüft werden
Die nachfolgende Tabelle listet geschätzte Gesamtzahlen der Emigranten in die Schweiz:
Die Rockefeller Foundation wurde 1913 von der Rockefeller-Familie gegründet und finanzierte seither überall in Europa wichtige Forschungen, Lehrstühle und Untersuchungen. Sie bauten eigene Forschungseinrichtungen auf und waren, besonders in der Medizin und in den Naturwissenschaften, sehr aktiv. Durch die sich 1933 stark verändernde Situation in Deutschland entwickelte die Rockefeller Foundation ihr „Refugee Scholar Program“. Im Rahmen dieses Programms wurde eine Liste mit ca. 1600 Namen gefährdeter und vertriebener Wissenschaftler aus Deutschland erstellt. Diese Liste deckte grob diejenigen Wissenschaftsbereiche ab, in welchen die Rockefeller Foundation bereits jahrelang intensiven Austausch und Investitionen getätigt hatte, was ca. 4 Millionen Dollar und 110 unterschiedliche Projekte in 22 europäischen Ländern beinhaltete. Diese Liste erreichte führende Universitäten in Amerika und Großbritannien sowie viele weitere Hilfsorganisationen und war wegbereitend für viele Gelehrte aus Europa, wie zum Beispiel beim gleich näher behandelten Emergency Rescue Committee. Die Rockefeller Foundation sorgte nicht nur für die Überfahrt von Emigranten und weitere Vermittlung an andere Organisationen und Universitäten, sondern sie führte auch zusätzliche Lehrstühle ein, um auch den heimischen Professoren noch Chancen einzuräumen. Die „Jewish Telegraphic Agency“ schrieb am 28. März 1935, dass eine Summe von ca. 340.000 Dollar von der Rockefeller Foundation für die Hilfe von „Nicht-Arischen“ Professoren und Wissenschaftlern bereitgestellt wurde und dass 236 Gelehrte in Bildungsinstitutionen eine Stelle gefunden haben (Appleget 1946, Craver 1986).
Das Emergency Rescue Committee, hier ERC, wurde im Juni 1940 in New York gegründet, um Künstlern, Musikern, Wissenschaftlern und Politikern aus dem besetzen Frankreich nach dessen Waffenstillstand zur Flucht zu verhelfen, da Frankreich sich dem „Großdeutschen Reich“ gegenüber vertraglich verpflichtet hatten, auf Wunsch festgesetzte Verfolgte auszuliefern. Aufgabengebiet sollte die Koordination unterschiedlicher privater Hilfsorganisationen sowie Hilfe beim Einreisen und bei den bürokratischen Aufgaben der Emigration sein. Besonders der 1907 in New York geborene Publizist Varian Fry (1907–1967), Mitbegründer des ERC, erkannte während seiner Tätigkeit als Auslandskorrespondent einen Zuwachs an Antisemitismus in Berlin und machte sich deshalb stark für die Gründung des Committees. Als Kontaktmann des ERS schmuggelte er Flüchtlinge über europäische Küstenländer aus der Gefahrenzone heraus (McClafferty 2008). Hilfe bekam in dieser Zeit der ERC durch First Lady Eleanor Roosevelt und andere einflussreiche Personen aus Politik und Wissenschaft. Fry und Kameraden waren im Vichy-Frankreich aktiv, bis er 1941 ausgewiesen wurde, da sein Handeln zu große Wellen geschlagen hatte und 1942 der ERC in Frankreich verboten wurde. Der ERC und die „International Relief Association“ formierten sich im selben Jahre neu unter der Bezeichnung „International Rescue Committee“ (IRC), gegründet von Albert Einstein, unter welcher sie noch heute aktiv sind. Zu Frys Zeit wurde ca. 4.000 Personen in 1.800 Fällen zur Flucht verholfen.
Das Emergency Committee in Aid of Displaced Foreign Scholars, in diesem Artikel abgekürzt mit ECFS, wurde 1933 in New York von Alfred E. Cohn, Bernard Flexner, Fred M. Stein und Stephen Duggan, mit dem Zweck gegründet, deutschen vom Nazi-Regime vertriebenen Wissenschaftlern eine Arbeitsstelle an amerikanischen Institutionen zu verschaffen. Während ihres 12jährigen Bestehens befand sich das Hauptaufgabengebiet der ECFS im Sammeln von Spenden, im Veranstalten von Benefizveranstaltungen und in der Finanzierung zusätzlicher Lehrstühle für europäische Emigranten an amerikanischen Institutionen. Aufgrund der Aggressionen des Nazi-Regimes ab 1938 benannte sich die Emergency Committee in Aid of Displaced Foreign German Scholars dann in Emergency Committe in Aid of Displaced Foreign Scholars um und erweiterte so ihr Hilfsangebot auf vertriebene Gelehrte aus ganz Europa. In den Jahren 1936, 1937 und 1941 erstellte auch das Emergency Committee ausführliche Listen mit insg. rund 1600 Namen all deren, die nach ihrem Wissen von den Nationalsozialisten aus rassistischen oder antisemitischen Gründen aus ihrer Stelle entlassen und vertrieben worden waren; publiziert ist diese „List of Displaced German Scholars“ in Strauss, Buddensieg & Düwell (Hrsg.) 1987). Im Juni 1946, also ein Jahr nach dem Ende des Committees, wurden die Dokumente des ECFS an die New York Public Library übergeben (vgl. Stinson 1982 für das Findbuch sowie das Bundesarchiv, BArch R 57/9409 für ergänzende Unterlagen). Aus diesen dort noch heute einsehbaren Unterlagen sowie aus Duggan & Drury (1951) und Archiven geht hervor, dass sich rund 6000 Gelehrte und Künstler bei der ECFS gemeldet hatten u. unter diesen mindestens 335 Personen direkte Unterstützung erhalten hatten, z.T. über viele Jahre lang wie nachfolgende Tabellen zeigen:
Anzahl min. Jahre erhaltener Unterstützung | 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 10 |
Anzahl der Personen | 156 | 82 | 46 | 19 | 16 | 13 | 2 | 1 |
Eines der frühen engagierten Mitglieder des Emergency Committee, der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Alvin Saunders Johnson (1874–1971), war gleichzeitig erster Direktor der sogenannten „New School“. Diese „New School“ wurde 1919 gegründet als New School for Social Research, um frei und unabhängig Ideen auszutauschen. Sie war nach dem deutschen Modell der Volkshochschulen geformt und behielt auch so eine enge Bindung an die deutsche und europäische Lernethik. Durch Finanzierung von Hiram Halle, einem Großindustriellen, und von der Rockefeller Foundation (s.o.) wurde die „University in Exile“ für Emigranten durch das Nazi-Regime gegründet. Insgesamt 180 Gelehrten und ihren Familien wurden Visas und Arbeitsplätze in der „University in Exile“ bereitgestellt. Besonders in den –> Sozialwissenschaften sorgte die New School mit ihrer besonderen Herangehensweise für Aufmerksamkeit.
Appleget, Thomas: The [Rockefeller] Foundation’s experience with refugee scholars, Typoskript 5. März 1946.
Craver, Earlene: Patronage and the Directions of Research in Economics: The Rockefeller Foundation in Europe, 1924–1938, Minerva 24 (1986): 205-222.
Davie, Maurice R.: Refugees in America. Report of the Committee for the Study of Recent Immigration from Europe, New York/London: Harper & Brothers, 1947.
Duggan, Stephen & Betty Drury: The Rescue of Science and Learning. The Story of the Emergency Committee in Aid of Discplaced Foreign Scholars, New York: Macmillan, 1951.
Erichsen, Regine: Vom Nationalsozialismus vertriebene Wissenschaftler auf dem Markt. Die Arbeitsvermittlung des engl. Academic Assistance Council (SPSL) am Beispiel von Türkeiemigranten, Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 19 (1996): 219-234.
Hirschfeld, Gerhard (Hrsg.) Exil in Großbritannien. Zur Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschland, Stuttgart: Klett-Cotta 1983.
Hirschfeld, Gerhard: Über den Academic Assistance Council in Großbritannien. In: Edition Text+Kritik 6: Vertreibung der Wissenschaften, 1988: 28-43.
McClafferty, Carla Killough: In Defiance of Hitler, The Secret Mission of Varian Fry, New York: Farrar, Straus & Giroux, 2008.
Röder, Werner & Herbert A. Strauss (Hrsg.): Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933-1945, München: Saur 1980-83, Reprint 1999, insb. Bd. I: Politik Wirtschaft, Öffentliches Leben.
Spalek, John M. & Joseph Strelka (Hrsg.): Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933, München: Saur 1976, Reprint 2018, insb. Bd. I: Kalifornien Teil 1 von Wolfgang D. Elfe.
Stinson, John D.: Guide to the Emergency Committee in Aid of Displaced Foreign Scholars Records, New York: New York Public Library Manuscripts and Archives Division, 1982.
Strauss, Herbert A., Tilman Buddensieg u. Kurt Düwell (Hrsg.) Emigration. Deutsche Wissenschaftler nach 1933. Entlassung und Vertreibung, Berlin 1987 (mit der List of Displaced German Scholars des Emergency Committee in Aid of Displaced Foreign Scholars, London, Autumn 1936, Suppl. 1937 u. Report 1941).
Bradley, Megan; Madokoro, Laura; Erdilmen, Merve; Chanco, Christopher: Whither the Refugees? International Organisations and „Solutions“ to Displacement, 1921-1960, 26.02.2022 https://academic.oup.com/rsq/advance-article/doi/10.1093/rsq/hdac003/6537528?login=false
Hilfsorganisationen – Flucht- und Flüchtlingshilfe in der Zeit des Nationalsozialismus, https://kuenste-im-exil.de/KIE/Content/DE/Themen/hilfsorganisationen.html
Krohn, Claus-Dieter: Emigration 1933-1945/50, erschienen: 31.05.2011 http://ieg-ego.eu/de/threads/europa-unterwegs/politische-migration/claus-dieter-krohn-emigration-1933-1945-1950
Miller Laur: Root Causes, Not Relief, Rockefeller Archivcenter, erschienen 10.12.2021 https://resource.rockarch.org/story/world-war-ii-the-rockefeller-foundation/
Jewish Telegraphic Agency: https://www.jta.org/archive/reveal-exiles-assisted-by-rockefeller
The New School for Social Research: https://www.newschool.edu/nssr/history/