Der Soldat an der Westfront – Propagandakrieg

„Es ist nicht wahr, daß unsere Kriegführung die Gesetze des Völkerrechts mißachtet. Sie kennt keine zuchtlose Grausamkeit. Im Osten aber tränkt das Blut der von russischen Horden hingeschlachteten Frauen und Kinder die Erde, und im Westen zerreißen Dumdumgeschosse unseren Kriegern die Brust. Sich als Verteidiger europäischer Zivilisation zu gebärden, haben die am wenigsten das Recht, die sich mit Russen und Serben verbünden und der Welt das schmachvolle Schauspiel bieten, Mongolen und Neger auf die weiße Rasse zu hetzen.“ (Quelle 1: An die Kulturwelt!)

Nachdem deutsche Truppen in der Nacht zum 4. August 1914 unter völkerrechtswidriger Missachtung der Neutralität Belgiens die Grenzen zum westlichen Nachbarland überschritten hatten – was die britische Kriegserklärung zur Folge haben musste – , wurden sie in der Schlacht um Lüttich in heftige Kämpfe verwickelt. Zugleich mehrten sich Berichte über angebliche Beschießungen durch Zivilisten und Freischärler, die sogenannten Franctireurs. Die Felddienstordnung leugnete das in der Haager Landkriegsordnung verbriefte Widerstandsrecht der Bevölkerung und der deutschen Seite dienten derartige Gerüchte somit als Rechtfertigung für die zahlreichen an der Zivilbevölkerung begangenen Gewalttaten. 5.521 Zivilisten kamen in Folge des deutschen Einmarsches bei Massenerschießungen, Deportationen und Brandstiftungen ums Leben.
Das schlimmste Massaker verübten sächsische Truppen am 23. August in der Provinz Namur, als sie in der als Maas-Übergang strategisch bedeutsamen, 7.000 Einwohner zählenden Stadt Dinant 674 Zivilisten – darunter 92 Frauen und 28 Kinder – ermordeten. Die Sachsen richteten auch Unbewaffnete hin, benutzten Zivilisten als menschliche Schutzschilde und drohten mit Geiselerschießungen. 400 Personen wurden nach Deutschland verschleppt, die Stadt geplündert und fast vollständig niedergebrannt. Wenige Tage später wüteten deutsche Truppen in der altehrwürdigen Universitätsstadt Löwen, töteten wegen angeblicher Franctireurs-Angriffe 248 Bewohner und zündeten abermals zahlreiche Gebäude an, darunter die einzigartige Bibliothek mit ihren wertvollen mittelalterlichen Beständen.
Propagandistisch flankiert wurden Kriegsalltag und allgegenwärtiges Sterben durch eine Flut von illustrierten Feldpostkarten, die der Heimatfront die verschiedensten visuellen Eindrücke vom Kampfgeschehen und dem Leben in der Etappe vermittelten (Quelle 2).

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Propaganda-Postkarte „Ich kenne keine Parteien mehr ...“ (1915)

Die Nachrichten von deutschen Kriegsgräueln – dem „Rape of Belgium“ – verbreiteten sich rasch und erforderten aus deutscher Sicht eine Gegenreaktion, zumal die Entente durch das Kappen der Seekabel die Informationshoheit erringen konnte. Die Protestresolution der Intellektuellen „An die Kulturwelt“ vom 4. Oktober 1914 war dementsprechend vor allem an die neutralen Staaten gerichtet, um dort die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Beseelt von den „Ideen von 1914“ wurden darin der vom Kaiser verkündete, überparteiliche „Burgfrieden“ beschworen, „deutsche Kultur“ gegen „westliche Zivilisation“ und „östliche Barbarei“ ausgespielt sowie alle Anschuldigungen kriegsverbrecherischen Vorgehens in Belgien kategorisch zurückgewiesen (Quelle 1). Nicht einmal zwei Wochen später folgte eine Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches, die in ähnlichem Tenor gehalten war und gar von 3.000 Persönlichkeiten unterzeichnet wurde (Quelle 3). Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: Am 21. Oktober 1914 veröffentlichte die New York Times eine Erklärung von 120 britischen Hochschullehrern, die die vorsätzliche Zerstörung der Universitätsbibliothek von Löwen sowie der Kathedralen von Reims und Mechelen durch deutsche Truppen anprangerten. Die Verlautbarungen deutscher Gelehrter wurden darin strikt zurückgewiesen, deren Handeln zugleich aber nicht auf niedere Motive sondern auf Gutgläubigkeit zurückgeführt (Quelle 4).
Dass sich die Propaganda-Fronten im Laufe des Krieges weiter verhärteten, war unausweichlich. Die Vergewaltigung des unschuldigen Belgien blieb dabei ein beliebtes Motiv (Quelle 5). Erst in jüngster Zeit scheinen populärkulturelle Auseinandersetzungen mit dem Ersten Weltkrieg zu einer differenzierteren Sichtweise gelangen zu können (Quelle 6).

Uwe Fraunholz, Dresden 2015

Literatur

Quelle 1: An die Kulturwelt!

Quelle 2: Feldpostkarten

Quelle 3: Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches

Quelle 4: Reply to the German Professors

Quelle 5: Destroy this mad brute

Quelle 6: Valiant Hearts


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