Die Tschechoslowakei bestand 1918 aus den Gebieten Tschechiens, der Slowakei und Karpathorußlands (heute Karpathoukraine) und war ein multinationales Land. Insbesondere in den böhmischen Ländern - mit Prag als einem der ältesten Zentren der jüdischen Gemeinden Mitteleuropas - lebten Juden seit dem Mittelalter zwischen Tschechen und Deutschen.
Mit der Gründung der Tschechoslowakischen Republik 1918, auch die Erste Republik genannt, änderte sich zwar die bestehenden Machtstruktur im Land. Die nationalen Gegensätze hingegen blieben weiterhin bestehen, die ein Erbe der k. und k. Monarchie waren. Statt wie zuvor in der k. und k. Monarchie hatte, die deutschsprachige Minderheit keine Vormacht mehr, sondern die tschechische Minderheit bekam diese durch die Gründung der Republik. Die deutsche Minderheit, die etwa 22% der Bevölkerung ausmachte (Stephan 1982), fühlte sich benachteiligt und waren einer Nadelstichpolitik ausgesetzt. Die Weltwirtschaftskrise verschärfte den daraus resultierenden Konflikt, da es unter den Deutschen mehr arbeitslose gab als unter den Tschechen. In dieser angespannten Situation fand die Propaganda der NSDAP Anklang.
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland 1933 und der Niederschlagung des sozialdemokratischen Februaraufstandes in Österreich 1934, wurde die Tschechoslowakei dennoch für wenige Jahre zu einem der wichtigsten Exilländer Europas. Vor allem nach dem Erlass der Nürnberger Gesetzen 1935 suchten viele einen Ausweg im Ausland. Dies galt insbesondere für Politiker, Künstler und Juden. Schätzungsweise suchten zwischen 8 000 und 10 000 Menschen Zuflucht in der Tschechoslowakei. Es existieren jedoch keine genauen Zahlen, sondern nur statistische Annäherungen, da auch ein Großteil der Menschen die Tschechoslowakei lediglich als Durchgangsstation nutzte und weiterreiste.
Die Tschechoslowakei gehörte jedoch zu den Ländern, die Adolf Hitler (1889-1945) annektierte und die deshalb nur vorübergehend Zuflucht boten. Die Tschechoslowakei ist somit sowohl ein Zufluchtsland (bis 1938) wie (danach) auch ein Fluchtland der nationalsozialistischen Zeit.
Aus verschiedenen Gründen war die Tschechoslowakei ein beliebtes Zufluchtsland. Die direkte Nachbarschaft und die ca. 1500 km lange, bewaldete Grenze reduzierten das Risiko, während der Flucht entdeckt zu werden. Der Weiteren erleichterteren liberale Einreisebestimmungen und das Fehlen von Sprachbarrieren den Emigranten die Integration - besonders in Prag, wo eine große deutsche Minderheit lebte. Dies brachte mit sich, dass es deutsche Schulen, kulturelle Einrichtungen, Zeitungen und Parteien gab. Prag wurde dadurch zum Zentrum des Exils. Neben dieser Stadt dienten jedoch, auch weiterer Städte als Zufluchtsorte. Brünn war z.B. vor allem für die Österreicher ein beliebtes Ziel. Auch war die rechtliche Lage der Emigranten seit 1935 durch ein Ausländergesetzt geregelt, welches das im Oktober 1934 ausgesprochenen Verbot der Ausweisung politischer und „rassischer“ Flüchtlinge bestätigte.
Die meisten Exilanten lebten weitgehend unter sich, geplagt von Sorgen und viel freie Zeit, da für nahezu alle ein striktes Beschäftigungsverbot galt. Nur Künstler, Schriftsteller und Journalisten durften ihren Beruf weitestgehend ausüben. Dies war bedingt durch die vorherrschende Weltwirtschaftskrise. Folge war, dass sich Bibliotheken und Caféhäuser, wie das Continental in Prag und das Biber in Brünn, zu den sogenannten „Wartesälen der Emigration“ entwickelten.
Allerdings gab es ein breites Spektrum von Emigranten. Dadurch kam es zu Spannungen und Polarisierungen innerhalb der deutschen Minderheiten. Es war politisch gesehen alles vertreten von demokratischen Hitler Gegnern bis hin zu Stalinisten. Auch die tschechoslowakische Regierung hatte keine klare asylpolitische Konzeption. Die Parteien besaßen ein ebenso breites Spektrum wie die Emigranten. Es reichte von Befürwortung für die Emigranten bis hin zu Hetzkampagnen dagegen. Dennoch bot beispielweise Prag alles, was die Exilanten benötigten; es gab Hilfskomitees, Wohnheime, öffentliche Küchen, polizeiliche Meldestellen, antifaschistische Vereine und die bereits erwähnten Parteien. Viele Theater in der Tschechoslowakei spielten Stücke von Autoren auf, deren Werke in Deutschland verbotenen waren. Eine weitere zentrale Rolle nahmen deutschsprachige Zeitungen und Zeitschriften ein. Sie dienten als wichtiges Medium für den Austausch von Informationen und Diskussionen innerhalb der Emigrantengemeinschaft. Einige dieser Zeitungen, wie das Prager Tagblatt und der Tagesbote in Brünn, boten exilierten Schriftstellern die Möglichkeit der Mitarbeit an, auch wenn dies nicht zu einer festen Anstellung führte.
Für jüdischen Emigranten verschärfte sich die Politik in der Tschechoslowakei zunehmend. Vor allem mit dem Inkrafttreten des Fremdengesetztes vom 15. Juli 1937 verschlimmerte sich die Ablehnung ihnen gegenüber. Nach dem Münchener Abkommen 1938 und dem Rücktritt vom Staatspräsident Edvard Beneš (1884-1948) etablierte sich unter dem Nachfolger Emil Hácha (1872-1945) die sogenannte Zweite Republik. Die Nationale, antisemitischen und antidemokratische Stimmungen bestimmten ab dann das Klima in der Öffentlichkeit.
Wie in anderen Ländern auch war die Regierung nicht unbedingt emigrantenfreundlich eingestellt. Es bestanden Spannungen zwischen dem Außenministerium und dem Innenministerium. Dies änderte sich nach dem Beistandspakt mit der Sowjetunion im Mai 1935. Verstärkt wurden die Spannungen von tschechischen Parteien, die sich gleichermaßen gegen die Sudetendeutschen und die Emigranten stellten. Auch die deutsche Gesandtschaft trug u.a. durch Beschwerden über antideutsche Kundgebungen und Exilzeitungen ihren Teil dazu bei. Sichtbar wurde dies auch im Umgang mit den Exilanten, welche keine offizielle Hilfe vom Staat erhielten.
Die Exilanten wurden von einem Netzwerk aufgefangen, das aus politischen und karitativen Hilfskomitees bestand. Eine der Hilfsorganisationen war die Liga für Menschenrechte, die bereits am 1. März 1933 einen Artikel im Prager Tagblatt (Link zu einem Artikel in dem Kurt Grossmann (1897-1972) davon schreibt) und in weiteren Zeitungen einen Aufruf veröffentliche, in dem sie dazu aufrief, den kommenden Flüchtlingen zu helfen. Zu den weiteren Organisationen, die sich für die Unterstützung der Flüchtlinge einsetzten, gehörten: die Demokratische Flüchtlingsfürsorge, die Sozialdemokratische Flüchtlingsfürsorge der Deutschen sozialdemokratischen Arbeiterpartei, das Hilfskomitee des Einheitsverbands der Privatangestellten, das Hilfskomitee für jüdische Flüchtlinge und Emigranten aus Deutschland, das Hilfskomitee für deutsche Flüchtlinge, sowie die Zentralstelle für österreichische Flüchtlinge. Bei diesen Komitees wurden die Flüchtlinge registriert und erhielten den sogenannten Evidenzbogen. In diesem Bogen befanden sich sowohl die Personalangaben als auch zwei Stempel. Einmal den Stempel des Hilfskomitees und einmal den der Polizeistelle. Es handelte sich dabei jedoch nicht um offizielle Aufenthaltsgenehmigungen, sondern um halbamtliche Dokumente, die dennoch von den Behörden anerkannt wurden. Zudem wiesen Komitees die Flüchtlinge in Wohnheime ein und unterstützten mit finanzieller Zuwendung. Die Komitees erhielten jedoch nur eine geringe staatliche Unterstützung und waren weitgehend auf Spendengelder angewiesen. Die Demokratische Flüchtlingsfürsorge nahm ihre Tätigkeiten bereits am 30. März 1933 auf und bereute bereits Mitte Mai 264 Emigranten. Im Herbst 1933 schlossen sich die aufgelisteten Komitees zu einem Dachverband zusammen: dem Comité National Tcheco-Slovaque pour les Réfugiés provenants d’Allemagne. Diese Einrichtungen hatte zwei dringliche Aufgaben zum einen die Legalisierung der Emigranten und zum anderen die Versorgung mit Unterkunft und Nahrung. Die DSAP (Deutsche sozialdemokratische Arbeiterpartei, 1919- 1939) stellte ihre Organisationen für die illegale Arbeit der Sopade (Sozialdemokratische Partei Deutschlands im Exil, 1933-1940) zur Verfügung. Das heißt, für die Betreuung der im Reich verbliebenen Kader und für die Beobachtung der politischen Szene. Dafür bauten sie Grenzsekretariate auf, welche die Verbindungen zu den Genossen im Reich aufrecht hielten. Die Grenzsekretariate beförderten auch Zeitungen und Zeitschriften gegen Hitler über die Grenze. 1937 teilte der Staatspräsident auf Druck von außen mit, dass die emigrierten Parteivorstände nur geduldet würden, wenn sie sich jeglicher politischen Tätigkeiten gegen die Berliner Regierung enthalten würden. Der Sitz der Sopade wurde daraufhin nach Paris verlegt. Der Einmarsch der deutschen Truppen am 15. März 1939 setzten allen Bemühungen der Unterstützung ein Ende. Die Gestapo suchte systematisch nach politischen Flüchtlingen und die Hilfskomitees mussten sich auflösen. Viele der dort Mitarbeitenden wurden verhaftet.
Die Tschechoslowakei war zwar zeitweise ein Land des Durchgangsexils, doch nach dem Anschluss als Protektorat an das nationalsozialistische Deutschland durch das Münchener Abkommen, löste sich auch dort eine Fluchtbewegung aus. Diese erfasste bis zum Sommer 1939 mehr als 200 000 Menschen. Die Juden aus den an Deutschland angeschlossenen Gebieten emigrierten in ihrer überwiegenden Mehrheit entweder noch vor dem Kriegsbeginn oder suchten Zuflucht im Rest-Tschechoslowakei. Dort erlitten sie jedoch später das gleiche Schicksal wie die Juden des Protektorats.
In der Tschechoslowakei kam es, wie in Deutschland, zu Enthebungen von Ämtern an Universitäten. Überdies gab es die Absicht die Deutsche Universität zu verlegen, doch Hitler selbst entschied, dass diese in Prag zu bleiben habe. Mit der neuen Regierung, der damals genannten zweiten Tschechoslowakischen Republik, passte sich das Land dem expandierenden Nachbarn an. Eine Entlassung aller Lehrenden jüdischer Herkunft an den Universitäten wurde am 4. Februar 1939 durchgeführt. Insgesamt 77 Pädagogen wurden dementsprechend entlassen. Am 1. September 1939 wurde die Universität der Jurisdiktion des Dritten Reiches unterstellt und in Deutsche Karls-Universität umbenannt. Kurz darauf gaben Großbritannien und Frankreich Hitler mit dem Münchener Abkommen grünes Licht das Sudetengebiet zu übernehmen. Am 30. September ergab sich die tschechoslowakische Regierung. Am 15. März überschritten Hitlers Truppen planmäßig die tschechische Grenze und am 16. März erklärte Hitler das tschechische Staatsgebiet zum Protektorat.
Die Phasen der Emigration in und aus der Tschechoslowakei sind sehr gut in der Grafik erkennbar. Dabei ist anzumerken, dass die Exilanten aus Deutschland und Österreich nicht immer zu unterscheiden waren. Aus beiden Ländern flohen die Menschen um 1933 aus unterschiedlichen Gründen. Die spätere Emigrationsphase ist deutlich erkennbar am Zeitpunkt des Anschlusses an das nationalsozialistische Deutschland.
Auch die Emigrationen aus der Tschechoslowakei vor und während des Zweiten Weltkrieg sind nicht von der Flüchtlingsbewegung zu trennen, die bereits vor dem Münchener Abkommen vom 30. September aus den an das Deutsche Reich grenzenden Gebieten einsetzte. Bis zum Sommer 1939 wurden mehr als 200 000 Menschen erfasst, die flohen.
Ein typisches Fluchtbeispiel ist John Heartfield (1891-1968). Er war ein Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands und geriet schnell in das Visier der Nazis. Deswegen floh er bereits 1933 nach Prag. 1938 nach dem Münchener Abkommen musste er erneut fliehen und ging schließlich nach Großbritannien.
Die Aufzählungen von knapp 700 deutschen und österreichischen Emigranten aus sämtlichen Bereichen und Berufen, die das Biographische Handbuch der deutschsprachigen Emigration verzeichnet, zeigt auf, dass der Mehrheitsanteil aus politisch motivierten Flüchtlingen bestand. Der Anteil politisch motivierter Flüchtlinge wird auf 80% geschätzt (Röder (1992), S. 22). Nach der sozialen Zusammensetzung waren in der Emigration Facharbeiter und handwerkliche Berufe, Angestellte und Freiberufler am stärksten vertreten,
weswegen auch von einer proletarischen oder politischen Emigration gesprochen wird. Die Ursache dafür war der relativ leichte Grenzübergang. Hinzukommend hatten in der Tschechoslowakei die beiden deutschen Arbeiterparteien eine Leitung aufgebaut und konnten illegale Arbeit in Deutschland organisieren. Darunter häufig Flugblätter und ähnliche Druckerzeugnisse, die illegal verteilt wurden. Die Gruppe der Schriftsteller, Journalisten und Künstler stellte allerdings nur eine verschwindend kleine Gruppe von allen Exilanten. Die Hervorhebung bekannter Namen täuscht in manchen Artikeln darüber hinweg. Dennoch waren Zeitschriften auch ein politisch wichtiges Medium. Willy Haas (1891- 1973) war zum Beispiel ein bekannter deutsch-tschechischer Schriftsteller, welcher in Prag Mitherausgeber der Prager Presse war.
In der Personendatenbank dieser Webseite sind 176 Einreisende mit ihren unterschiedlichen Berufsgruppen zu finden die in die Tschechoslowakei gingen. Diese Datenbank beschäftigt sich nicht mit allen Emigranten, sondern legt den Schwerpunkt auf die wissenschaftliche Emigration, wobei alle unter 25 Jahren in der Grafik ausgeschlossen wurden. Der Bereich Kunst ist in der wissenschaftlichen Emigration hier als deutlich stärkster Teil zu finden.
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