Wie praktisch jede wissenschaftliche Teildisziplin im Deutschland des frühen 20. Jahrhunderts blieb auch die Rechtswissenschaft nicht unbeeinflusst durch das nationalsozialistische Regime. Spätestens mit Machtübernahme der NSDAP und der Ernennung Hitlers als Reichskanzler Anfang 1933 zeichneten sich die Folgen des nun manifestierten Macht- und Ideologiewechsels reichsweit ab – auch für die deutsche Jurisprudenz. Mit Erlass des „Gesetzes zur Herstellung des Berufsbeamtentums“ (BBG) am 7. April 1933 wurde seitens der regimetreuen Juristen des Deutschen Reichs die rechtliche Grundlage geschaffen, auch diejenigen Fachkollegen aus dem Staatsdienst zu entfernen, die jüdischer Abstammung oder schlicht politisch unerwünscht waren. Das BBG war neben anderen Faktoren, wie dem allgemein vorherrschenden Antisemitismus, einer der Gründe für die Vertreibung und Emigration eines substantiellen Teils der deutschen Rechtswissenschaftler zwischen 1933 und 1945.
Die folgenden Abschnitte sollen sich demnach mit der Emigration und dem Exil dieser vertriebenen deutschen Rechtswissenschaftler auseinandersetzen und dabei versuchen, einen Überblick über ihre Schicksale darzustellen.
Dabei sollen die Erhebungen Breunungs in Krohns „Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933 – 1945“ (1998) verwendet werden, um die Gruppe der Rechtswissenschaftler in einem engeren Sinne – also all derer, die noch zum Wintersemester 1932/33 einen Lehrauftrag an deutschen Hochschulen wahrnahmen – näher analytisch beschreiben zu können. Alle weiteren statistischen Ausführungen basieren dann auf der Tabelle Lichmans, welche neben Rechtswissenschaftlern zudem auch zahlreiche Rechtsanwälte und weitere Angehörige der übergeordneten Berufskategorie „Recht“ beinhaltet.
Die Rechtswissenschaft wie sie im 20. Jahrhundert und in ähnlicher Form auch heute noch an deutschen Universitäten gelehrt und in der Praxis betrieben wird, setzt sich aus verschiedensten Teildisziplinen zusammen, die wir heutzutage vor allem in Form der „großen“ Kategorien des Privat- bzw. Zivilrechts, öffentlichen Rechts und Strafrechts kennen. Daneben findet sich eine Vielzahl von weiteren Rechtsformen, die beispielsweise das Völkerrecht, Verfassungsrecht, Sozialrecht, Arbeitsrecht, Steuerrecht und viele weitere umfassen. Der Begriff der Rechtswissenschaft umfasst die Gesamtheit der genannten Rechtsarten und soll im Folgenden synonym zu dieser Gesamtheit verwendet werden.
Um nachstehende Ausführungen besser in Kontext setzen zu können, lohnt es sich, einen Blick auf die Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert zu werfen, wobei festzustellen ist, dass bereits hier deutliche Zeichen eines systematisch-akademischen Antisemitismus zu finden sind.
Einerseits lässt sich für die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts ein deutlicher Anstieg angehender jüdischer Juristen zumindest in Preußen feststellen: Während 1872 noch 3 % aller preußischen Rechtsanwälte jüdischer Abstammung waren, stieg dieser Anteil bis 1893 auf 25 % an. Konfessionell schien die Jurisprudenz demnach überproportional jüdisch geprägt zu sein, wenngleich diverse Hindernisse erzeugt wurden, die den Erfolg jüdischer Anwälte etc. erschweren sollten. Außer an der überdurchschnittlich liberalen Universität Heidelberg war es beispielsweise „deutschlandweit“ vor 1875 keinem jüdischen Juristen möglich, eine akademische Karriere zu verwirklichen (Zimmermann 2004; S. 20). Auch mit zunehmender Liberalisierung, was die Lehrtätigkeiten jüdischer Rechtswissenschaftler anging, lassen sich deutliche Zeichen von Diskriminierung feststellen – beispielsweise Wartezeiten von bis zu 14 Jahren zwischen Habilitation und Berufung auf eine Professur wie im Falle Martin Wolffs.
Gemäß Breunung lässt sich der juristische Gesamtlehrkörper an deutschen Hochschulen zum Wintersemester 1932/33 insgesamt mit 496 Rechtswissenschaftlern beziffern. Diese Summe beinhaltet mit 328 Personen vor allem ordentliche Professoren, aber auch Privatdozenten und andere Lehrbeauftragte. 88 Lehrende und damit 17,7 % des Lehrkörpers waren jüdischer Abstammung (Breunung 1998; 870).
Jede dieser 88 jüdischen Personen des deutschen juristischen Kollegiums wurde nachweislich vertrieben, was nicht nur die tatsächliche Entlassung gemäß § 3 BBG – dem sogenannten „Arierparagraphen“ – sondern auch „freiwilliges“ Verlassen der Hochschule meint. Gründe hierfür waren meist anhaltende Diskriminierung durch Kollegen oder eine ohnehin absehbare Entlassung in näherer Zukunft. Zusätzlich wurden weitere 44 Personen vertrieben, die zwar selbst nicht jüdischer Abstammung waren, aber einen jüdischen Ehepartner hatten oder in anderer Form politisch-ideologisch aneckten.
Von den insgesamt 132 Vertriebenen – die also über ein Viertel des Lehrkörpers ausmachten – fanden mit 69 Personen etwas mehr als die Hälfte den Weg ins Exil; 60 davon waren Juden (Breunung 1998; 872). Immerhin 48 dieser 69 Emigranten gelang es, eine rechtswissenschaftliche Tätigkeit auch im Exil fortzuführen, wenn auch oft nicht in Form einer ordentlichen Professur, wie es an ihrer ursprünglichen Universität der Fall war. Ein Drittel der verbliebenen emigrierten Juristen, die in dieser Hinsicht weniger erfolgreich waren als ihre Kollegen, überlebte bereits das erste Exiljahr nicht; die Gründe reichen vom Tod im Internierungslager über plötzliche – möglicherweise durch die Strapazen der Emigration induzierte – Krankheit bis hin zum Suizid.
Von den 26 jüdischen Rechtswissenschaftlern, die im Deutschen reich verblieben sind, starben mit 17 Personen fast zwei Drittel vor Kriegsende 1945 – 9 davon gar vor Kriegsbeginn 1939. Todesursachen waren auch hierbei Selbstmord, Kriegseinwirkungen und der Tod in Haft eines Konzentrationslagers sowie die dortige systematische Ermordung.
Bis auf eine Ausnahme kehrten alle der neun überlebenden jüdischen Rechtswissenschaftler nach Kriegsende an eine deutsche Universität zurück.
Rechtssysteme sind das Ergebnis oft komplexer historischer Entwicklungen und spiegeln die spezifischen kulturellen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen eines Landes wider. Emigrierte Juristen und Rechtswissenschaftler mussten sich demnach nicht nur mit einer neuen Sprache und Kultur auseinandersetzen, sondern auch die fundamentalen Unterschiede zwischen dem „natürlichen“ Rechtssystem ihres Heimat- bzw. Ausbildungslandes und dem Land bewältigen, in welches sie immigriert sind. Das betrifft sowohl die konkreten Rechtsvorschriften, als auch das Verfahrensrecht und die juristische Methodologie. Die Anerkennung juristischer Abschlüsse und die Zulassung zur Berufsausübung sind oft kompliziert und erfordern eine zusätzliche Ausbildung oder Prüfung, was den Transfer von Wissen und Fähigkeiten erheblich behindern kann. „(…) der große Unterschied zwischen Juristen und allen anderen Wissenschaftlern“ sei derjenige, bemerkte auch der international hoch geschätzte Max Rheinstein in einem Interview, „da[ss] der Jurist mit seinen ausländischen Kenntnissen hier [in den USA; Anm. d. Verf.] nichts anfangen kann. (…) Man mu[ss] wieder auf die Universität gehen, und wenn man praktisch arbeiten will als Rechtsanwalt mu[ss] man wieder Examen machen“ (Radio Bremen 1962; 80).
Trotz dieser Schwierigkeiten gibt es bemerkenswerte Beispiele für erfolgreichen Wissenschaftstransfer durch emigrierte Juristen, die während des 20. Jahrhunderts aus Europa in beispielsweise die USA emigrierten und erheblichen Einfluss auf die Entwicklung des amerikanischen Rechts ausgeübt haben. Einzelne Juristen brachten neue Perspektiven und Ansätze in die amerikanische Rechtslehre ein und trugen zur Entwicklung von Bereichen wie dem Verfassungsrecht und der Rechtsphilosophie bei – darunter zum Beispiel der zitierte Rheinstein oder Hans Kelsen. Sie integrierten ihre tiefgehenden Kenntnisse des kontinentaleuropäischen Rechts in die Rechtssysteme ihrer Aufnahmeländer und trugen so zur transnationalen Verbreitung von Rechtsideen bei. Trotz der dramatischen Umstände der Vertreibung gelang es einigen der emigrierten Juristen, in ihren neuen Heimatländern bedeutende akademische und praktische Erfolge zu erzielen und damit die Rechtskulturen ihrer neuen Heimatländer nachhaltig zu bereichern.
Wie eingangs erwähnt sollen die bisherigen Ausführungen und Daten, die im Wesentlichen auf Breunungs Angaben basieren, durch weitere statistische Auswertungen der Tabelle Lichmans ergänzt werden, welche neben den akademischen auch solche Rechtswissenschaftler beinhaltet, die ihr Fach in einem weiteren Sinne vertreten. Insgesamt ergeben sich somit 345 Personen, die zwischen 1933 und 1945 emigriert sind und der Kategorie „Recht“ zugeordnet werden können. Der Großteil dieser Gruppe mit 265 Einträgen gilt dem Beruf des Rechtsanwalts, hinzu kommen 56 Rechtsprofessoren sowie 24 weitere Juristen verschiedener Spezialisierungen. Wenig überraschend entfallen über 82 % der Einträge auf männliche Rechtswissenschaftler.
Konfession
Ebenfalls absehbar ist der große Anteil jüdischer Emigranten an der Gesamtzahl der Geflüchteten. Erwartbar wäre zudem, dass sich dieser Anteil weiter erhöhen würde, lägen zusätzlich die Informationen der 31,3 % vor, von denen keine konfessionelle Angabe ersichtlich war. Bei allen nicht-jüdischen Personen ist davon auszugehen, dass – wie oben erwähnt – andere politische bzw. ideologische Gründe für die Emigration vorlagen.
Altersverteilung
Ob und inwiefern die Gruppe der unter 18-jährigen Emigranten zur Gruppe der „emigrierten Rechtswissenschaftler“ zählen sollte, lässt sich diskutieren. Quantitativ bildet sie jedoch mit den größten Anteil eben dieser Gruppe. Daneben wird deutlich, dass vor allem die Altersgruppe zwischen 25 und 44 den Hauptteil aller juristischen Emigranten bildet. Darüber hinaus scheint die Gruppe der 18 bis 24-Jährigen proportional vertreten zu sein; es ist zudem davon auszugehen, dass es gerade denjenigen, die zum Zeitpunkt ihrer Emigration noch nicht fertig ausgebildet und damit noch „formbar“ waren, leichter fiel, sich in ihrem neuen beruflichen Umfeld zu assimilieren und Karriere zu machen.
Ausreisezeitpunkte
Betrachtet man die absolute Verteilung der Emigranten pro Jahr hinsichtlich ihres Ausreisezeitpunktes fällt ein zu erwartendes Muster auf: Mit Machtübernahme und den sich daraus ergebenden Konsequenzen entschloss sich auch der größte Teil der Rechtswissenschaftler dazu, möglichst bald zu emigrieren. Die jährliche Zahl der Emigranten nimmt in der Folge ab, um 1938 bzw. 1939 mit dem sich mehr und mehr abzeichnenden Kriegsausbruch und den zunehmend realisierten Konzentrationslagern schlagartig anzusteigen. Während der Kriegsjahre gelang es nur noch wenigen, aus dem Reichsgebiet zu entkommen.
Zielländer
Wie auch für andere Emigrantengruppen waren die USA und Großbritannien die Hauptzielländer, in die deutsche Rechtswissenschaftler emigrierten. Insgesamt 149 Personen und damit fast die Hälfte aller Émigrés wählten den anglo-amerikanischen Sprachraum als ihr erstes Exilland aus. Neben den Nachbarländern des Deutschen Reiches lassen sich darüber hinaus auch einige teils doch exotische Zielländer emigrierter Juristen finden. Von – in doppeltem Sinne – naheliegenderen Zielen wie zunächst Frankreich, die Tschechoslowakei, Schweiz oder Niederlande, fanden doch auch nicht wenige den Weg nach Palästina. Andere bis nach Spanien, Ecuador, Kolumbien, Australien, Kanada oder Japan.
Wie gezeigt wurde, blieb auch die deutsche Rechtswissenschaft alles andere als unbeeinflusst vom nationalsozialistischen Regime Hitlers. Spätestens mit der Machtübernahme 1933 führte die systematische Diskriminierung jüdischer und regimekritischer Kollegen auch in den juristischen Abteilung der deutschen Hochschulen dazu, dass innerhalb weniger Jahre gut ein Viertel des nationalen juristischen Lehrkörpers ausgetauscht wurde. Dieser bildete somit auch die Grundlage für den juristischen Wiederaufbau Deutschlands nach 1945. Hinzu kommen über 260 Rechtsanwälte, die sich auf dem Globus verteilt ein neues Leben aufbauten. Wer Glück hatte, konnte seinem Feld in der einen oder anderen Weise erhalten bleiben; viele aber mussten sich gänzlich umorientieren und einen echten Neuanfang gestalten.
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