Die Emigranten der Disziplinen Psychologie und Psychiatrie werden andernorts fast immer zu denen der Medizin gezählt, hier aber separat ausgewertet. In der Personendatenbank, die auf dem Biographischen Handbuch der Deutschsprachigen Emigration nach 1933 basiert, beträgt ihr Anteil etwa 42%. Insgesamt ist in der Datenbank eine Gesamtzahl von etwa 290 deutschsprachigen Psychologen und Psychiatern zu finden, die ab 1933 aus Deutschland bzw. später aus den besetzten Gebieten emigrierten.
Wie in den meisten Bereichen der Gesellschaft blieben auch jüdische Psychologen und Psychiater nicht von der Propagandamaschinerie verschont. Entlassungen erfolgten und moralische Aspekte im Umgang mit Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen traten auf.
Im Personenlexikon der deutschsprachigen Psychologinnen und Psychologen 1933-1945 sind 345 Personen aufgelistet, von denen 89 emigrierten, was ca. 26% ausmacht. 104 der aufgelisteten Personen waren Mitglieder in der NSDAP. Zwei Drittel der genannten Personen waren Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, nach 1933 verließen jedoch 160 Mitglieder die Gesellschaft. Darunter waren Emigranten und ausländische Mitarbeiter der Gesellschaft. Diese verlor somit mehr als 50% ihrer Mitglieder. (Wolfradt (2017), S. 2ff.)
Psychologie selbst war im Nationalsozialismus gefragt, weshalb viele der bleibenden Psychologen und Psychiatern einen Rang in der SS bekleideten, und Mitglieder der NSDAP waren. Eugenische Motive wurden unter anderem durch Psychiater wie Ernst Rüdin (1874-1952) erklärt und formuliert, und das Konzept der „Rassenreinheit“ wurde in Kombination mit Psychologie als Studiengang angeboten. Begriffe wie Rassen- und Erbpsychologie gehörten zum Alltag der Psychologiestudierenden. Ebenfalls veränderten sich die Schwerpunkte der Psychologie. Die Gestaltpsychologie machte nicht mehr den produktivsten Anteil aus, sondern überließ dies der Ganzheitlichen Psychologie. (Stadler (1985) S. 143) Manche Wissenschaftler von der Gestaltpsychologie blieben in Deutschland und konnten ihre Theorie nach 1945 dann weiterentwickeln. Einer von ihnen war z. B. Wolfgang Metzger (1899-1979), welcher während der nationalsozialistischen Zeit in seinen Publikationen gelegentlich politische Äußerungen einfließen lassen musste, die seine Loyalität beweisen sollten. (Stadler (1985) S. 150). Einen weiteren großen Anteil in der Psychologie waren die Industriepsychologie und die Militärpsychologie. Die Industriepsychologie entwickelte einen Wachstumsschub vor 1933, der somit nur teilweise durch das NS-Regime kam. Bei der Militärpsychologie verhielt es sich anders, diese entwickelte sich erst nach 1933 intensiv weiter. (Métraux (1985), S. 225
Allgemein beschäftigte sich die Forschung in der Psychologie und Psychiatrie weniger mit alltäglicher psychiatrischer Therapie und negative Bewertungen konnten für die Patienten tödliche Konsequenzen haben.
Im Jahre 1933 gab es an den Universitäten, technischen Hochschulen und Handelsschulen in Deutschland nur zwei Lehrstühle, die explizit der Psychologie zugeschrieben waren. Es gab jedoch 21 Lehrende, die als Psychologen bezeichnet werden konnten, da sie sich mit psychologischen Gegenständen befassten und auch die Psychologie in der Lehre vertraten. Die Psychoanalyse wurde als einziger Bereich der Psychologie als „jüdische Wissenschaft“ bezeichnet. (Ash (1984), S.208f.)
Es gab zwei deutliche erkennbare Phasen der Emigration zu finden. Die erste unmittelbar nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten und die zweite nach der Annektierung der anderen Gebiete. In der folgenden Grafik, die auf derPersonendatenbank basiert, die wiederrum auf dem Werk Biographisches Handbuch der Deutschsprachigen Emigration nach 1933 basiert, sind diese Phasen zu erkennen. Personen unter 25 Jahren wurden hierbei ausgenommen.
In der ersten Phase war eine große Menge an Zielländern zu finden, darunter waren zum Beispiel Argentinien, Belgien, China, Niederlande, Schweden, Ungarn und mehr. Wobei bereits die USA in der ersten Phase einen großen Teil ausmachte und mit weiteren Zielländern emigrierten beinahe alle in die USA.
Die meisten emigrierten zweimal, ca. 54% und nur ungefähr 26% blieben in ihrem ersten Exilland, die weiteren 20% reisten in mehr als zwei Länder.
Die erste Welle der Emigration, führt den ein oder anderen noch in ein nahes Land, vermutlich mit der Hoffnung, dass die Herrschaft der Nazis nicht allzu lange anhält. Viele der Mediziner hatten außerdem den Vorteil, dass ihr Fachgebiet nicht Sprachenabhängig war, was es ihnen ermöglichte, die Arbeit auch in anderen Ländern fortzusetzen.
Sehr viele emigrierten in die USA da sie dort Arbeit fanden und in ihren Fachbereichen tätig bleiben konnten. Zwar änderte sich manchmal die Fachrichtung, doch blieb es im Wesentlichen der von ihnen erlernte Beruf. Schwierigkeiten hatten diejenigen, die zuvor in Kliniken arbeiteten, da das System in solchen anderes strukturiert war.
Ein Vorteil der USA war, dass das Land bereits im Voraus gezielt bestimmte Experten abwarben und auch bereits durch die Vernetzung in der Forschung Kontakte bestanden. Solche Vernetzungen gab es zum Beispiel durch vorherige Forschungsreisen. Außerdem waren Psychologie und Psychiatrie ein sehr gefragter Fachbereich.
Allerdings konnte keine Rede davon sein, dass es die Exilanten in den USA einfach hatten. Viele hatten nur eine begrenzte Lehr- oder Forschungsstelle. Langfristige Beschäftigungsstellen bekamen die Exilanten häufig erst nach mehreren Jahren, während oder nach dem Zweiten Weltkrieg. (Ash (1984), S. 211)
Die USA profitierte enorm von den Emigranten aus dem Fachbereich Psychologie und Psychiatrie. Dadurch entwickelten sich im Land neue Fachgebiete. Ein Beispiel ist die klinische Psychologie, die in den USA expandierte. (Ash (1984), S. 212). Zusammenfassend wurde Amerika damit zu einem der Vorreiter für diese Fachrichtungen. Dies sorgte vermutlich auch dafür, dass viele der Emigranten nach dem Fall des Nationalsozialismus in den USA blieben.
Für Palästina hatte die Emigration ebenfalls eine enorme Auswirkung. Die weitere Entwicklung der Psychologie profitierte davon. Vor 1933 gab es dort drei Psychologen, nach dem Krieg waren es bereits 60-70 jüdische Psychologen und Psychiater. (Zalashik (2013), S. 870)
215 der Emigrierten blieben in den USA und nur fünf Personen remigrierten remigrierten nach Deutschland. Dabei reisten diese nicht unbedingt direkt nach der Befreiung ab, sondern in manchen Fällen auch zu einem deutlich später wie zum Beispiel Ludwig Lewin (1887-1967), der 1964 nach Deutschland zurückkehrte. Lewin kehrte aus den USA zurück, obwohl er dort Direktor einer psychiatrischen Klinik war und bekam erneut die Stelle als Rektor der Lessing-Hochschule in Berlin, wo er auch vor seiner Flucht als Rektor gearbeitet hatte. Menschen, die jedoch in den USA blieben, taten dies meist, weil sie sich dort ein neues Leben aufgebaut hatten und mittlerweile fest im Land verankert waren.
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