In den 1930er Jahren spielten die Niederlande, als direktes Nachbarland, das politisch eine strikte Neutralität verfolgte, eine wesentliche Rolle in der Emigrationsgeschichte. Das Land fungierte hierbei sowohl als Transitland wie auch - für einige - als endgültiges Zufluchtsland.
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland verhielt sich die niederländische Regierung zunächst zurückhaltend gegenüber ihrem großen Nachbarn. Die Regierung wollte dadurch einerseits ihre Neutralität und Stabilität bewahren. Andererseits erhoffte man sich so, jegliche Spannungen mit dem Nachbarn zu vermeiden, mit dem bilaterale Beziehungen – wirtschaftlicher und handelspolitischer Art – unterhalten wurden. (Fetting u.a. (1981), S. 24-25; North (2013) S.94) Doch während die niederländische Regierung nach außen eine politisch neutrale Haltung einnahm, missbilligte sie intern die Rassenpolitik des NS-Regimes. Eine Haltung, die allerdings nur hinter verschlossenen Türen geäußert wurde. (Fetting u.a. (1981), S. 25; Langkau-Alex und Würzner (2008), S. 322)
Vor dem Hintergrund dieser internen Widersprüche in der niederländischen Politik rückten die Niederlande nach der Machtübernahme in Deutschland als ein leicht zugänglicher und vielversprechender Zufluchtsort in den Fokus. In der Tat machte einerseits die Kombination aus Neutralitätspolitik und eine stabile diplomatische Beziehung zu Deutschland das Land zu einem idealen ersten, zweiten oder auch letzten Zufluchtsort. Vor allem aber die geographische Lage und die Möglichkeit, 1933 als Deutscher ohne Visum in das Land einreisen zu können, führten unmittelbar nach der Machtergreifung zu einer großen Fluchtwelle. Unter den Flüchtlingen waren vor allem Kaufleute und Angestellte, aber auch Arbeiter, Handwerker, Schriftsteller, Journalisten, Redakteure, Künstler, Ärzte, Juristen und andere Freiberufler. (Fetting u.a. (1981), S. 17f.)
Die obere Tabelle basiert auf den Daten von Lichman, die wiederum aus dem Handbuch extrahiert wurden. Sie gibt einen Überblick über die jährliche Anzahl der in die Niederlande emigrierten Personen. Zudem sind diese zusätzlich noch unterteilt in die Anzahl der Personen, welche die Niederlande als erstes, zweites und drittes Zufluchtsland aufsuchten.
Die niederländische Regierung sah sich zu Beginn der 1930er Jahre mit einer Vielzahl von Herausforderungen konfrontiert, welche die Reaktion auf die Emigration bis in die 1940er Jahre maßgeblich prägten. Dabei ist insbesondere auf die Etablierung und Ausbreitung des Faschismus innerhalb der niederländischen Gesellschaft hinzuweisen. (Fetting u.a. (1981), S. 22-24)
In diesem Kontext entwickelte sich parallel zum deutschen Faschismus eine faschistische Bewegung in den Niederlanden, die unter dem Einfluss verschiedener interner und externer Faktoren an Größe und Einfluss gewann. Wirtschaftliche und politische Umbrüche begünstigten hierbei das Aufblühen der Ideologien. Besonders prägend war dabei die Weltwirtschaftskrise. Die dadurch hervorgerufenen Unruhen führten zu einer beunruhigenden Instabilität, welche die ohnehin bereits bestehende Anfälligkeit vieler Niederländer für extremistische Ideologien weiter verstärkte. Letztere versprachen sich deshalb mittels extremistischer Ideologien einfache Lösungen für die komplexen Probleme der gesellschaftlichen und politischen Landschaft. Die gleichzeitige Spaltung der Arbeiterklasse sowie die daraus resultierende Schwäche der Kommunistischen Partei in den Niederlanden führten dazu, dass sich keine effektive Abwehrfront zum Schutz der Demokratie bilden konnte. Diese Konstellation begünstigte das weitere Wachstum faschistischer Tendenzen im Land. (Fetting u.a. (1981), S. 23f.)
In den 1930er Jahren war insbesondere die folgenden faschistischen Gruppierungen wesentliche Akteure: die National-Socialistische Bewegung, der Algemeene Nederlandse Fascisten-Bond, Zwart Front, der Verband van Dietse Nationaal-Solidaristen sowie die Nationaal-Socialistische Nederlandse Arbeiterpartij. Diese Organisationen propagierten eine starke, zentralisierte Führung und strebten nach einer einheitlichen nationalen Identität. Die politische Agenda war darauf ausgerichtet, sich als Verteidiger gegen den Kommunismus zu präsentieren, wobei dies bei Teilen der Mittel- und Oberschicht auf Resonanz traf. Zudem wurde die wirtschaftliche Notlage ausgenutzt, um vielen verunsicherten Bürgerinnen und Bürgern wirtschaftlichen Aufschwung und Stabilität zu versprechen. Diese Strategien und Versprechungen zogen zahlreiche verunsicherte Bürger an, was zu tiefgreifenden politischen und sozialen Verwerfungen führte. (Fetting u.a. (1981), S. 22-24)
Die Emigration in die Niederlande zwischen 1933 und 1939 ist gekennzeichnet durch eine Gliederung in mehrere Zeitabschnitte, welche in der Literatur in drei Hauptphasen eingeteilt werden. Diese Phasen reflektieren die Entwicklungen sowohl der Fluchtbewegungen als auch der Aufnahmebedingungen. Jede Phase war hierbei geprägt von spezifischen, historischen, politischen oder sozialen Gegebenheiten, welche den Prozess der Aufnahme von Flüchtlingen in den Niederlanden maßgeblich beeinflussten. (Michman (1982), S. 75; Langkau-Alex und Würzner (2008), S. 322)
Die erste Phase der Emigration in die Niederlande, die sich vom Frühjahr 1933 bis zum Frühjahr 1934 erstreckte, war durch eine bereitwillige Aufnahme der Flüchtlinge gekennzeichnet, wobei die Regierung eine abwartende, aber stets wachsame Haltung einnahm. Die offene und tolerante Politik der Regierung zeigte sich unter anderem in der Möglichkeit der visafreien Einreise sowie in der relativ liberalen Regelung bezüglich der Wiederaufnahme einer Beschäftigung. Als exemplarisch für das Engagement der Regierung konnte das Projekt Wieringermeer-Polder angeführt werden. Hierbei wurde ein Abschnitt des Zuiderzees eingedeicht und trockengelegt, um auf diese Weise neue Landflächen zu gewinnen. Das neu gewonnene Land wurde nicht nur für landwirtschaftliche Zwecke bereitgestellt, sondern auch für die Umschulung von Flüchtlingen genutzt. Die niederländische Regierung hatte somit zu Beginn der Fluchtbewegung die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen aktiv gefördert. (Fetting u.a. (1981), S. 19; Michman (1982), S. 75-78; Langkau-Alex und Würzner (2008), S. 323f.)
Aufgrund solcher Möglichkeiten ließ sich in der Anfangsphase der Emigration eine sprunghaft wachsende Zahl an Flüchtlingen verzeichnen, die kurz nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten eintrafen. Diese Entwicklung lässt sich als ein Hinweis darauf interpretieren, dass die Entscheidung zur Emigration von einem Gefühl der Hoffnung auf eine positive Zukunft geprägt war. In den ersten Monaten des Jahres stieg die Anzahl der sich in den Niederlanden aufhaltenden Flüchtlinge stetig an. Nach Schätzungen waren es zwischen März und September 1933 ungefähr 15.000 Flüchtlinge. Ein Großteil der Flüchtlinge gab dabei bei den zuständigen Behörden an, sich als Touristen, Verwandtenbesucher oder Durchreisende in den Niederlanden aufzuhalten. Infolge der ersten Terrorwellen des Kriegs kehrte jedoch bereits ein Großteil der jüdischen Flüchtlinge 1939 in ihre Heimatländer zurück. Des Weiteren ist zu erwähnen, dass ein nicht unerheblicher Anteil der Flüchtlinge sich nicht bei den zuständigen Behörden gemeldet hat, wodurch eine präzise Bestimmung der Gesamtzahl erschwert wurde. (Langkau-Alex und Würzner (2008), S. 323)
Jedoch stand das Land durch diesen unerwarteten Zustrom bald vor erheblichen Herausforderungen, die es völlig unvorbereitet traf. Dies resultierte in Konsequenzen, welche in den Folgejahren evident wurden und letztlich zu einer Einschränkung des Einwanderungsstroms führten. (Fetting u.a. (1981) S. 17f.; Langkau-Alex und Würzner (2008), S. 322) Die anfänglich liberale Haltung änderte sich Ende 1933, was durch eine Kumulation wirtschaftlicher und sozialer Belastungen mitverursacht wurde. Das Resultat dieser Veränderung war eine restriktivere Flüchtlingspolitik, die insbesondere durch den katholischen Justizminister J. R. H. van Schaik (1882 -1962) forciert wurde. Unterstützt von weiteren Ministern plädierte Van Schaik hierbei für eine härtere Linie gegenüber den Flüchtlingen, um potenziellen gesellschaftlichen und ökonomischen Risiken, die von ihnen ausgehen könnten, zu begegnen. Diese Entwicklung markierte den Beginn einer Verschärfung der Einwanderungspolitik, welche in ersten Ausweisungen resultierte. Letztere können als Vorboten für die zweite Phase der Emigrationspolitik in den Niederlanden betrachtet werden. (Fetting u.a. (1981) S. 31; Michman (1982), S. 75-78)
In Reaktion auf die Herausforderungen sowie die Belastung, die Ende 1933 auftraten, wurde die Flüchtlingspolitik restriktiver. Zu Beginn der 2. Phase, die vom Frühjahr 1934 bis 1938 anhielt, wurde die Einwanderungspolitik weiter verschärft. Insbesondere die Ereignisse wie der Februar-Aufstand 1934 gegen das Dollfuß-Regime in Österreich und der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich im Jahr 1938 verdeutlichen die prekären politischen Zustände Europas. Die strengeren Regelungen, die nun in Kraft traten, spiegelten hierbei die zunehmende Sorge der Regierung sowie den Versuch, die nationale Stabilität zu sichern, wider. (Langkau-Alex und Würzner (2008), S. 322f.) In Reaktion darauf begann die niederländische Regierung im März 1934 offiziell mit der Durchsetzung einer strengeren Einwanderungspolitik, die durch ein Rundschreiben an Polizei sowie Grenzschutz Ende Mai 1934 rechtlich bekanntgeben wurde. Hinzukommend erlebten die Niederlande eine Zunahme an Arbeitslosigkeit und wirtschaftlichem Abschwung, was die öffentliche und politische Meinung gegenüber den Flüchtlingen weiter verhärtete. Die Arbeitslosenzahlen im ersten Quartal des Jahres 1936 stiegen auf über 450.000 Personen an. Ebenfalls wurde am 2. April 1937 ein weiteres Gesetz wirksam, welches die Gründung von Unternehmen durch Ausländer einschränkte oder untersagte. (Michman (1982), S. 75-78)
Des Weiteren wurde mit Wirkung zum 30. August 1934 bestimmt, dass niederländische Geschäfte oder Unternehmen keine Ausländer beschäftigen durften, sofern diese nicht im Besitz einer gültigen und überprüften Arbeitserlaubnis waren. Die Erteilung dieser Erlaubnisse erfolgte lediglich nach einer streng durchgeführten Prüfung der Qualifikationen und war stets an eine zeitliche Befristung gebunden. (Michman (1982), S. 75-78)
Die dritte Phase der Emigration in den Niederlanden, die sich vom Frühjahr 1938 bis zum Mai 1940 erstreckte, markierte eine Zeit der verschärften Grenzpolitik. Diese Verschärfung folgte unmittelbar auf den „Anschluss“ Österreichs und der Zerschlagung der Tschechoslowakei, wodurch die Regelungen für Emigranten deutlich einschränkender gestaltet wurden. Die Niederlande hielt aufgrund dieser Ereignisse ihre Grenzen für Flüchtlinge weitestgehend geschlossen.
Eine Ausnahme hierfür bildete die Zeit um die Reichspogromnacht, von November 1938 bis März 1939. In diesem Zeitraum öffnete die Regierung die Grenzen temporär und gewährte die Aufnahme von etwa 800 Flüchtlingen, bevor die Grenzen erneut geschlossen wurden. Diese Flüchtlinge, welche meist aus humanitären Gründen aufgenommen wurden, mussten jedoch mit diversen strengeren Auflagen als in den Jahren davor rechnen. Bis März 1939 stieg die Zahl der ins Land gekommenen Flüchtlinge auf 10.000 an. Unter ihnen waren vor allem jüdische Flüchtlinge, die von der Regierung in neu errichteten Lagern wie Westerbork untergebracht wurden. Dieses Lager, das 1939 erbaut wurde, ging 1942 in die Verwaltung des SS-Regimes über. Überdies kehrten etliche Besucher nicht nach Deutschland zurück. Aufgrund dieser Zahlen betonen die Historiker Langkau-Alex und Würzner in ihrem Beitrag „Niederlande“ im „Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933 – 1945“, dass erst nach der Reichspogromnacht wirklich von einem Flüchtlingsproblem gesprochen werden konnte. Dies steht im Kontrast zur Haltung der Regierung seit 1934, die sich bereits seit den Anfängen mit einem solchen Problem konfrontiert sahen. (Langkau-Alex und Würzner (2008), S. 323-324)
Zu den strengeren Auflagen gegenüber den Fliehenden gehört zum einen die unter Justizminister C. M. J. F. Goseling (1891-1941) im März 1938 verstärkte Maßnahme, dass Flüchtlinge als unerwünschte Person eingestuft wurden. Die Regierung erklärte, dass diese Entscheidung getroffen wurde, um eine Abwehr gegen Staatsgefahren zu ermöglichen. (Fetting u.a. (1981) S. 18; Michman (1982), S. 75-78)
Dieser Schritt sollte oft zu einer verpflichtenden Zurückweisung oder Ausweisung an den Grenzen führen. So erhielten wie bereits erwähnt nur eine geringe Anzahl von Flüchtlingen (knapp 800) eine Einreiseerlaubnis. Neben dieser veränderten Auflage folgten neue Zulassungsbedingungen, die sehr schwer zu erfüllen waren. Flüchtlinge waren dazu gezwungen, eine Erklärung vorzulegen, die von den deutschen Behörden unterzeichnet war und bestätigte, dass sie jederzeit ins Deutsche Reich zurückkehren konnten. (Michman (1982), S. 75-78)
Die Remigration und der Weiterzug waren - bedingt durch die politische Situation - unter den niederländischen Emigranten weit verbreitet. Während sich die einen für eine Auswanderung in den Nahen Osten entschieden, suchten andere junge Emigranten nach neuen Möglichkeiten, um in weiter entfernten Regionen Fuß zu fassen. So wurden jüdische Jugendliche bereits vor Kriegsausbruch in Lagern wie Wieringermeer und Loosdrechtse Plassen auf die Pionierarbeit in Palästina vorbereitet, wohin sie nach 1945 häufig auswandern konnten. Auf der anderen Seite zogen immer mehr junge Emigranten, oft Ehepaare, in die USA. Dort hofften sie, ihre durch die politischen Verhältnisse weitgehend blockierte berufliche Karriere fortsetzen und ein neues Leben beginnen zu können. Zu den Rückkehrern gehörten neben Transitmigranten beispielsweise auch verheiratete Exilantinnen. Sie wollten nach Deutschland zu ihren Männern zurückkehren, die bei Razzien zum Kriegsdienst oder zur SS eingezogen worden waren und überlebt hatten. Unter den politisch motivierten Exilanten befanden sich ebenfalls Personen, die die Rückkehr nach Deutschland anstrebten, um sich dort am demokratischen Wiederaufbau zu beteiligen. Es sei jedoch darauf verwiesen, dass auch mehrere Emigranten die Niederlande als neues Heimatland annahmen. Zu diesen zählten die Sozialdemokraten Henk Wielek (1912-1988) und Alfred Mozer (1905-1979), die in den Niederlanden Senatoren der Partij van de Arbeid in der Zweiten Kammer wurden und sich unermüdlich um eine Verständigung mit Nachkriegsdeutschland bemühten. (Langkau-Alex und Würzner (2008), S. 331) Diese vielfältigen Wege und Entscheidungen der Emigranten zeigen die Komplexität der Remigration nach dem Zweiten Weltkrieg.
Fetting, Hugo u.a.: Exil in den Niederlanden und in Spanien (= Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil: 1933 – 1945, Band 6), Frankfurt am Main 1981.
Happe, Katja: Viele falsche Hoffnungen. Judenverfolgung in den Niederlanden 1940-1945, Paderborn 2017.
Langkau-Alex, Ursula und Hans Würzner: Niederlande, in: Claus-Dieter Krohn (Hrsg.): Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933 – 1945, Darmstadt 1998, S. 321-331.
Michman, Dan: Die jüdische Emigration und die niederländische Reaktion zwischen 1933 und 1940, in: Dittrich, Kathinka und Hans Würzner (Hrsg.): Die Niederlande und das deutsche Exil 1933-1940, Königstein im Taunus 1982, S.75-86.
North, Michael: Geschichte der Niederlande, München, 4., durchgesehene und aktualisierte Aufl. 2013.
Salentiny, Fernand: Die Geschichte des europäischen Widerstands gegen Hitler. der "Krieg im Schatten"; Tschechoslowakei - Polen - Frankreich - die Niederlande - Belgien - Luxemburg - Dänemark - Norwegen - Jugoslawien - Griechenland - Die UdSSR - Deutsche gegen Hitler, Puchheim 1985.
Scheffer, Paul: Die Eingewanderten: Toleranz in einer genzenlosen Welt, München 2016.