Kanadas Grenzen blieben in der Hochzeit der Emigration zwischen 1930-1945 für viele Flüchtlinge und Emigranten verschlossen. Es ist umso wichtiger, Kanada als Gegensatz zu den anderen, aufnahmewilligeren Ländern korrekt darzustellen und die Gründe näher zu erläutern.
Die restriktive Einwanderungspolitik begann in Folge der Nachkriegszeit mit dem Immigration Act Amendment von 1919. Dieser war eine Antwort auf den blutigen Winnipeg General Strike im selben Jahr, welcher von ca. 30.000 Arbeitern aufgrund wirtschaftlicher Rezession und stei-gender Arbeitslosigkeit geführt wurde (vgl. Knowles 1997, S. 104.) Die Angst vor ausländi-schen Einflüssen, vor allem dem Kommunismus, sowie die ungewisse wirtschaftliche Lage führte zu einem generellen Misstrauen gegenüber allen ausländischen Einwanderern, obwohl nahezu alle streikenden Arbeiter in Großbritannien geboren wurden, dort aufwuchsen und insofern einer der Gründungsnationen Kanadas angehörten (vgl. Kelley & Trebilcock (1998), S. 180.)
Der Immigration Act von 1919 schränkte die Einwanderung ein. Immigranten aus Staaten, die zuvor mit Kanada im Krieg kämpften, wurde die Einreise verboten und gehörten zu den soge-nannten Enemy Alien Ländern. Darüber hinaus wurde das Bundeskabinett ermächtigt, Im-migranten jeder Nationalität, Rasse, Beruf und Klasse aufgrund ihrer „eigenartigen Bräuche, Gewohnheiten, Lebensweisen und Methoden des Eigentumserwerbs“ die Einreise zu verbieten und alle unerwünschten Immigranten zu deportieren (Vgl. Immigration Act Amendment, 1919).
Zu dem erschwerte ein neues Einwanderungsgesetz von 1923 die Immigration und teilte die Länder in zwei Gruppen der Preferred- (Norwegen, Schweden, Dänemark, Finnland, Luxem-burg Deutschland (ab 1926), Schweiz, Niederlande und Belgien) und Non-Preferred-Ländern (Österreich (ab 1923), Ungarn, Polen, Tschechoslowakei, Litauen, Estland, Lettland, Rumäni-en, Bulgarien, Jugoslawien, Italien, Länder östlich von Griechenland u. a.). Die Immigranten aus Preferred-Ländern waren erwünscht, die aus Non-Preferred-Ländern durften nur einwan-dern, wenn sie Berufe ausübten, die benötigt wurden. Darunter gehörten vor allem Farmer, Ar-beiter und Hausangestellter. Keinerlei Restriktionen galten für Immigranten aus den beiden ka-nadischen Gründungsnationen Großbritannien und Frankreich sowie für (weiße) US-Amerikaner (Der gesamte Absatz bezieht sich auf: Order-in-Council PC 1923-183).
Kurzweilige Lockerungen der Einwanderung gab es ab 1925 mit dem Railway Agreement, nachdem sich die kanadische Wirtschaft erholte und mehr Arbeitskraft benötigt wurde (vgl. Railway Agreement 1925). Ein wichtiger Akteur war hierbei der Premierminister William Lyon Mackenzie King (kurz Mackenzie King), der aufgrund durch Lobbyarbeit der Canadian Pacific Railway (CPR) und Canadian National Railway (CNR), die Ansiedlung von europäischen Landwirten erleichterte (ebd.). Im Rahmen des Abkommens, wurden beiden Eisenbahn- und Dampfschifffahrtgesellschaften erlaubt Berufszertifikate an Einwanderer auszustellen, die aus den Non-Preferred-Ländern stammten (vgl. Avery (1979) S. 100). Dieses Abkommen wurde aufgrund eines Regierungswechsels, massiver Arbeitslosigkeit nach der Großen Depression und des Widerspruchs zwischen den Ergebnissen der Eisenbahnansiedlung und den Einwande-rungszielen Kanadas 1930 aufgehoben (ebd., S. 101).
In der Einwanderungspolitik aus den 1920er Jahre ist in Kanada ein klarer Opportunismus er-kennbar, nur bevorzugte Personen- und Berufsgruppen in das Land immigrieren zu lassen, die benötigt wurden oder erwünscht waren. Diese Einwanderungspolitik zog sich bis in die späten 1940er hinein. Eine offene Asylpolitik für kluge Köpfe wie in den ->USA in Form von etwai-gen Abkommen gab es nicht, sie wurde sogar mit dem Immigrationsgesetz von 1931 deutlich verschärft. In der Tabelle 1 ist ein drastischer Fall der Immigrationszahlen von 104800 (Jahr 1930) auf 27500 (1931) erkennbar. Vor allem in den darauffolgenden Kriegsjahren macht sich ein Rekordtief von 7600 Personen (1942) bemerkbar. In dieser Tabelle sind die ca. 4200 Inter-nierten Flüchtlinge und Exilanten, die als -> Enemy Aliens von Großbritannien nach Kanada verschifft und in Lagern internierten worden sind, nicht erfasst. Die Gründe für diese geringen Immigrationszahlen werden in dem nächsten Kapitel weiter aufgegriffen und näher erläutert.
Die vorrangegangene Weltwirtschaftskrise und der folgenden Großen Depression, führte dazu, dass die kanadische Regierung unter King 1931 erneute Verschärfung der Einwanderungsbe-stimmungen erliess. Ein Drittel der kanadischen Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter, war zu diesem Zeitpunkt arbeitslos (Vgl. Kelley 1998, S. 221). Die Regierung führte daraufhin die strengste Einwanderungspolitik in der Geschichte Kanadas ein: Es wurden nur amerikanische und britische Staatsangehörige mit ausreichenden Mitteln, um sich bis zur Sicherung einer An-stellung selbst zu versorgen; Landwirte mit ausreichenden Mitteln, um in Kanada Landwirt-schaft zu betreiben; sowie die Ehefrauen und minderjährigen Kinder kanadischer Einwohner ins Land gelassen. Einwanderer aller anderen Klassen und Berufe wurden ausdrücklich von der Einreise nach Kanada ausgeschlossen (vgl. Order-in- Council PC 1931-695).
Diese Restriktion zog sich bis zum Ende des zweiten Weltkrieges. Erstmals ab 1946 stiegen die Immigrationszahlen signifikant auf ihr vorheriges Niveau auf. Diese strengen Einwanderungs-bestimmungen bedeuteten aber nicht, dass es in Kanada keinen Platz für Menschen anderer Länder oder Berufsgruppen gab. Einzelne Wissenschaftler aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei fanden erneut Arbeit in Kanada. Aufgrund der wenig einladenden Bedin-gungen, erhielten dort nur wenige gut ausgebildete Akademiker eine Arbeitserlaubnis. Deshalb wanderten viele wanderten wieder aus. Rückblickend war diese Isolation Kanadas eine auf Po-litik, Xenophobie und Ideologie basierende Entscheidung der Regierung, bei der zwei Hauptak-teure maßgeblich entscheidend beteiligt waren: Der Premierminister King und Frederick Charles Blair, der Direktor der Einwanderungsabteilung des kanadischen Ministeriums für Bergbau und Ressourcen von 1936 bis 1943 war.
Im November 1938 führte das kanadische Kabinett eine neue Verordnung ein, die die bereits geringen Möglichkeiten auf Einreise zusätzlich einschränkte. Diese besagte, dass ab dem 29. November 1938 jede Person, die nach Kanada gelangen möchte, einen gültigen Reisepass be-sitzen muss, ausgestellt von der Regierung des Landes, dessen Staatsangehörigkeit die Person hat. Ausgenommen von dieser Beschränkung waren Staatsbürger aus dem britischen Com-monwealth und den USA (Der gesamte Absatz bezieht sich auf: Order-in-Council P.C. 3016, 29.11.1938.).
Premierminister Mackenzie King und sein Kabinett trugen die politische Verantwortung dafür, dass Kanadas Grenzen für notleidende Flüchtlinge aus Europa nahezu komplett verschlossen blieben (vgl. Abella und Troper (1983) S. 7-9).
Bereits 1925 war der Antisemitismus für potenzielle Immigranten mit dem Railway Agreement spürbar. Eine Einschränkung wurde den Eisenbahn- und Dampfschifffahrtsgesellschaften von der kanadischen Regierung in Bezug auf ihre Einwanderungsaktivitäten aus Non-Preferred Ländern auferlegt. Sie wurden informiert, dass Juden, die in Non-Preferred Ländern leben, nicht unter denselben Bedingungen des Eisenbahnabkommens akzeptiert werden dürfen, son-dern im Besitz einer Sondergenehmigung des Einwanderungsministeriums sein müssen. Die kanadische Regierung gewährte nicht allen Inhabern eines dieser Regierung ausgestellten Rei-sepasses die gleiche Behandlung und die gleichen Vorschriften, sondern machte einen Unter-schied zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Staatsangehörigen dieser Länder. Immigranten, die als solche identifiziert wurden, z.B. durch den Eintrag „Religion: Jüdisch“ im Reisepass) mussten demnach im Vorfeld eine spezielle Genehmigung mit Nachweis ihres noch gültigen Reisepasses, beim Einwanderungsministerium beantragen. Nur mit dieser Sondererlaubnis war es ihnen möglich, eine Schiffspassage nach Kanada zu erwerben. (vgl. Rosenberg (1993), S. 127f.).
Angesichts der politischen Lage in Deutschland ab 1933 wird die Problematik der jüdischen Emigration nach Kanada deutlich: Durch ein im Jahr 1933 erlassene Gesetz erhielt die national-sozialistische Regierung die Befugnis, unerwünschten Personen sowie im Ausland lebenden Regimegegnern den Reisepass zu entziehen. Dies führte dazu, dass es für Juden unmöglich wurde, legal nach Kanada auszuwandern, sobald ihnen der Reisepass entzogen wurde und sie somit staatenlos wurden. (vgl. Gesetz über den Widerruf (14. Juli 1933), S. 538).
Als 1935 die zwei jüdische Parlamentsabgeordnete Samuel Jacos und Benjamin Robinson ver-suchten, zumindest eine Ausnahme für deutsch-jüdische Flüchtlinge zu erwirken, wurden ihre Bemühungen abgelehnt. Unter keinen Umständen wurden diesen die Erlaubnis zur Einreise erteilt, außer auf offiziellen Wegen durch das Erfüllen der Immigrationsvorschriften. Diese um-fassten die zuvor genannten Bedingungen und zusätzlich genug Kapital, um eine eigene Farm zu bewirtschaften (vgl. IR, File 54782/4 (1936)). Oftmals wurden den Juden auch ihr Vermögen widerrechtlich konfisziert, womit sie dieses zusätzliche Kriterium nicht erfüllen konnten.
Kanada unter William Mackenzie King (dritte Amtszeit als Premierminister 1935–1948) entwi-ckelte in Bezug auf NS-Flüchtlinge keine neue Asylpolitik. Es fehlte auch die Bereitschaft, Ver-triebene aus humanitären Gründen aufzunehmen. Ein wesentlicher Grund dafür lag in dem fra-gilen politischen Gleichgewicht zwischen dem frankofonen und dem anglofonen Einwohnertei-len Kanadas, das Mackenzie King bei einer Aufnahme einer größeren Zahl an jüdischen Flücht-lingen als gefährdet ansah. Auch wollte er als Premierminister wiedergewählt werden, weshalb politisches Kalkül mehr Gewicht bekam als Menschlichkeit (vgl. Knowles 1997, S. 144)
Außerdem gab es in den offiziellen kanadischen Statistiken aus diesen Jahren keine Unterschei-dung in öffentlichen Behörden zwischen Flüchtlingen und Immigranten, da offiziell keine Flüchtlinge aufgenommen wurden. Unterscheidungen in diesen Statistiken gab es nur zwischen verschiedenen Rassen. Es gab somit in die Grenzen Kanadas nur den Weg der legalen Immigra-tion (vgl. Avery (1988), S. 215).
Erschwerend kam hinzu, dass Blair, welcher die Immigration größtenteils lenkte, ein Anti-Semit war. Der Begriff „Flüchtling“ war für Blair ein Codewort für „Juden“ und er sah es als seine patriotische Pflicht an, Kanada vor der Überflutung vor ihnen zu bewahren. Er mochte Juden und ihre Eigenschaften nicht. Darunter verstand er, dass sie sich nicht integrieren ließen, sich absonderten und bedrohlich waren. Paradoxerweise begründete er seine ablehnende Haltung gegenüber jüdischen Immigranten damit, dass durch die Ankunft von mehr Juden der Antisemi-tismus zunehmen werde, die Sicherheit der bereits bestehenden jüdischen Gemeinschaft gefähr-de und es wenig Vorteile durch Neuankömmlinge gebe (Der gesamte Absatz bezieht sich auf: Vgl. IR, File 54782/5 (12. Oktober 1938); Ebd. (13. September 1938); Ebd. (28. März 1938), Ebd. (4. Mai 1938)).
Er zeigte seine Vorurteile in einem Brief offensichtlich, in dem er den Juden unterstellte auf-grund ihrer Eigenart überall auf der Welt unbeliebt zu sein, man diese Eigenschaften öfter direkt mitteilen müsse und diese an sich selbst arbeiten sollten, um genauso beliebt wie Skandinavier in Kanada zu werden (vgl. IR, File 54782/5 (13. September 1938).
Blair war zwar ein mächtiger ranghoher Regierungsbeamter, aber nicht allein berechtigt, die komplette Aufnahme von jüdischen Flüchtlingen oder Immigranten zu verweigern. Umschwen-ken der Politik der Regierung des Premierminister Kings gab es nicht und somit war es auch nicht verwunderlich, dass Hilfsorganisationen in Kanada mit diesen beiden Gegenspielern schwach und machtlos waren (vgl. Abella & Troper (1982), S. 12f.).
Die Reichskristallnacht von 1938 führte dazu, dass der amerikanische Präsident Roosevelt eine internationale Flüchtlingskonferenz im selben Jahr in Évian eröffnete. King blieb trotz beunru-higender Berichte über die desperate Notlage der Flüchtlinge unbeugsam in der Immigrations-politik und zögerte sogar lange, überhaupt eine Delegation nach Évian zu versenden. Der brei-ten kanadischen Öffentlichkeit war es gegenüber allen Ereignissen außerhalb der Landesgren-zen meistens gleichgültig und die Behörden warteten nur darauf, dass die verschiedenen, hefti-gen Proteste und Solidaritätskundgebungen von selbst aufhörten (vgl. Farges (2015), S. 41f.). Nachdem die Gräueltaten in den Konzentrationslagern 1943 von der polnischen Exilregierung den Alliierten berichtet wurde, führte auch dies zu keiner Änderung in der kanadischen Politik, den Opfern des Nationalsozialismus Hilfe zu leisten. Sie schaffte es sogar, durch Kalkül und Finesse zu vermeiden, dass die nächste Konferenz in Ottawa stattfand. Dies hätte zur Folge, dass die Aufmerksamkeit auf Kanada gerichtet worden wäre und die Regierung dazu hätte zwingen können, sich mehr für die Flüchtlinge zu engagieren und ihre Immigrationspolitik überdenken zu müssen (vgl. Dirks (1977), S. 56-57; Abella & Troper (2000), S. 22-32; 148-150).
Das kein Umdenken, stattdessen sogar eine Verschärfung stattgefunden hatte, macht sich be-sonders in den Immigrationszahlen von 1931-1944 bemerkbar (siehe Tab. 1). Erst in Folge der Nachkriegsjahre erholte sich die Zahlen langsam auf ein vorher ähnliches Niveau. Die Angst vor einer „Überschwemmung von Juden“ führte ab 1938 dazu, dass die Einreisebedin-gung für Juden verschärft wurden und sie je nach Dokumenten bearbeitenden Beamten, will-kürlich ein Vermögen von 50.000 $ (statt zuvor 10.000 bzw. 15.000 $) in ausländischer Wäh-rung mitführen mussten. Selbst wenn ihnen dieser Betrag zur Verfügung stand, konnte ihnen die Einreise aus anderen willkürlichen Gründen, wie z.B., dass sie Juden waren, verwehrt werden (vgl. Abella & Troper (1982), S. 29f.; Für weitere willkürliche Gründe gegen Juden siehe ebd., S. 70f. und 74-77).
Diese Situation spitzte sich 1939 zu, nachdem 937 deutsch-jüdische Flüchtlinge auf dem Damp-fer St. Louis zunächst in Havanna, trotz kubanischen Visums die Einreise verweigert wurden. Innerhalb von zwei Tagen lehnten alle Lateinamerikanischen Staaten die Einreise ab und die USA reagierte nicht mal auf ein Schreiben von jüdischen Hilfsorganisationen, stattdessen eskor-tierte die St. Louis mit einem Kanonenboot weg, abseits der amerikanischen Küste. Die letzte Hoffnung dieser Menschen war Kanada. King, Blair und andere aus dem Kabinett lehnten die Asylanträge mit der ironischen Begründung ab, dass Kanada bereits genug für die Juden getan hätte und sie nicht, die zuvor genannten Immigrationskriterien Kanadas, erfüllten. Die Passagie-re auf dem luxuriösen Dampfer waren gut ausgebildet und kultiviert, aber mittellos aufgrund von Zwangsbeschlagnahmung ihrer Vermögen. Keiner von ihnen durfte Einreisen, auch nicht nach einer Androhung von Massenselbstmord, welches die verzweifelte Lage dieser Menschen unterstrich (Der gesamte Absatz bezieht sich auf: Abel & Troper (1982), S. 63f.).
Nach der Einreiseverweigerung musste die St. Louis nach Europa umkehren und viele der Passagiere wurden später in den Konzentrationslagern ermordet. Die Irrfahrt der St. Louis war später wichtiger Gegenstand der politischen Debatten bei der UN-Flüchtlingskonferenz von 1951.
Als Mitglied des britischen Commonwealth nahm Kanada erstmals auf Drängen des Premier-ministers Churchills 1940 widerwillig 4000 -> Enemy Aliens und 3000 Kriegsgefangenen in einem Internierungslager auf (vgl. Koch (1980) S. 262). Eine kleine Zahl durfte als Friendly Aliens aus der Internierung entlassen werden, wenn ihre Fähigkeiten den kanadischen Bedürf-nissen zugutekommen könnten oder wenn sie als geeignet für eine weitere Ausbildung an Schulen und Universitäten in diesem Land befunden wurden, vorausgesetzt sie fanden kanadische Sponsoren (vgl. Dirks (1977) S. 89). 1943 wurde das letzte Flüchtlingslager in Kanada geschlossen und sie galten, bis auf eine Zahl von zurückgeführten Menschen nach Europa oder in die USA, als de facto Immigranten (vgl. Strickhausen (1998) S. 293). Kanada bot diesen ehe-maligen Gefangen 1945 sogar die kanadische Staatsbürgerschaft an (vgl. Gillman & Gillman (1980), S. 276). Aufgrund der großen hinzukommenden Probleme für die Immigration bei Hinweisen auf jüdische Religion versuchten viele Emigranten ihre Herkunft, wenn möglich, in Form von falschen Angaben zu verschleiern. Insofern weiß man auch nicht mit vollkommener Gewissheit, ob die Angaben von den erfassten Exilanten und Wissenschaftlern bezüglich ihrer Religionen, aufgrund besserer Aufnahmechancen in Kanada völlig korrekt sind.
Kanada nahm zwischen 1933 und 1945 etwa 6000 deutschsprachige Flüchtlinge auf (vgl. Puckhaber (2002) S. 12-13). Dazu gehören auch Flüchtlinge aus Österreich, Tschechoslowakei und anderen deutschsprachigen Nationen. Die erzwungene Emigration von Österreich nach Kanada ist in Strutz (2019) ausführlich dokumentiert. Von den 243 im Biographischen Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933 (Strauss (1983)) aufgeführten Emigranten, die nach Kanada auswanderten, waren 14 Frauen. Darunter befand sich eine große Anzahl von Professoren (vgl. Strickhausen (1998) S. 293). Dies steht im Gegensatz zu der gängigen Auffassung, dass kanadische Universitäten exilierten Wissenschaftlern in der Regel den Zugang ver-weigerten (Stokes 1976). Hierbei ist wichtig zu erwähnen, dass die meisten nach 1947 einwanderten, nachdem sich die Immigrationsgesetze in Kanada auflockerten. Somit ist es wichtig, die Zahlen vor und nach 1947 genauer zu betrachten.
Die nachfolgenden Daten und Tabellen basieren auf den Daten von Lichmans Masterarbeit, die wiederum aus dem Handbuch der deutschsprachigen Emigration extrahiert und um neue Daten ergänzt wurden.
Insgesamt sind zwischen den Jahren 1930-1950, 108 Wissenschaftler nach Kanada emigriert. Nur 71 dieser Personen waren zur Zeit der Einreise über 24 Jahre alt und hatten bereits eine abgeschlossene Ausbildung oder ein Studium absolviert (Siehe die nächsten beiden Tabellen).
Betrachtet man das Einreisealter in beiden Tabellen, so wird klar, dass sich unter den Wissen-schaftlern sowohl vor 1945 und auch im gesamten Zeitraum von 1930-1950, sehr viele junge Menschen im Alter unter 25 Jahren befanden.
Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass in der Hochphase der Flüchtlingsphase vor Kriegsende 1945 nur 29 von diesen besagten 71 Personen nach Kanada einreisen durften.
Der Höhepunkt der Einreisen war 1940 mit einer großen Zahl von 31 Personen. Interessanter-weise emigrierten sehr viele Personen nach Kriegsende nach Kanada.
11 von diesen 29 Personen emigrierten bis 1945 wieder aus Kanada aus. Eine kleine Zahl von 18 deutschsprachigen Wissenschaftlern blieb somit übrig. Nur 2 Personen gaben die Remigrati-on aus beruflichen Gründen an. Sie reisten zu dem Zeitpunkt aber nicht aus Kanada aus, son-dern befanden sich in jeweils anderen Ländern.
In der Gesamtzahl der Emigranten waren die USA das beliebteste Ausreiseland gefolgt von Großbritannien und Panama.
Die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen waren in kleiner Zahl vertreten, darunter nahmen die Chemie, Germanistik und die Medizin den größten Platz mit jeweils vier Personen ein. Bemerkenswert ist die große Zahl der wieder ausgereisten Personen, womit einzelne Disziplinen nicht mehr repräsentiert waren.
Die Einreise der Wissenschaftler bedeutete aber nicht, dass sie ihre vorherige Arbeit wieder auf-nehmen durften. Es wurde damit nur lediglich erfasst, dass sie Einreisen durften. Eine Wiederaufnahme der Tätigkeit wurde im Glücksfall einzelnen Personen gewährt und war keine gängige Praxis. Daher ist es statistisch nicht genau erfasst wie viele exilierte Wissenschaftler eine Wiederanstellung in Kanada fanden und muss daher mühevoll durch Recherchearbeit über Einzelpersonen oder durch mündliche bzw. schriftliche Überlieferung von Zeitzeugen in der Literatur entdeckt und weiter erforscht werden. Dieses Potential der sogenannten Oral History bietet die Möglichkeit diese Forschungslücken füllen zu können. Im Folgenden sollen drei ausgewählte Einzelbiografien beispielhaft die diversen möglichen Schicksale deutscher Emigranten in Kanada darstellen.
Die prominenteste vertretene Person und über die allgemein zugänglichen Informationen vor-handen sind, ist der physikalische Chemiker Gerhard Herzberg (1904-1999) der 1971 den Nobelpreis für seine Beiträge zur Kenntnis der elektronischen Struktur und Geometrie von Molekülen, insbesondere von freien Radikalen erhielt. Er emigrierte 1935 nach Kanada aus, nach-dem ihm aufgrund der Ehe mit seiner jüdischen Ehefrau eine Verlängerung seiner Anstellung an der TH Darmstadt verwehrt wurde. Er bekam an der University of Saskatchewan in Saskatoon eine Gastprofessur und nach drei Monaten eine Festanstellung als Research Professor für Phy-sik. 1945 erhielt er die kanadische Staatsbürgerschaft und remigrierte auch nicht mehr zurück nach Deutschland. Eine besondere Ehrung erhielt er durch die Benennung des hohen kanadi-schen Forschungspreises Gerhard Herzberg Canada Gold Medal for Science and Enginee-ring nach ihm (Zur Biographie vgl. Stoicheff (2003)).
Im Gegensatz dazu ist wenig über den ehemaligen Journalisten Emil Arnberg (1888 – 1965?) bekannt, der zuerst 1938 ins Landesinnere und dann 1939 nach Kanada fliehen musste. Er war dort als Farmer in Saskatchewan und später als Tischler in Toronto tätig und nahm seine vorherige Tätigkeit nicht wieder auf. Er starb vermutlich auch in Toronto (vgl. Handbuch der deutschsprachigen Emigration).
Robert Weil (1909-2002) war ein jüdisch-tschechischer Neuropsychologe und Psychiater, der zuerst in Prag und danach in Böhmen tätig war. Nach der Annexion der Tschechoslowakei 1938, flohen er und seine Familie zuerst nach London und emigrierten anschließend nach Ka-nada 1939. Im Gegensatz zu seinen ebenfalls emigrierten Mitkollegen, hatte er Glück und durfte er als Mediziner in Saskatchewan weiter praktizieren. Trotz Bemühungen hatte er anfänglich keinen Einfluss auf die Arbeitserlaubnis dieser. Zuerst war er als Familienarzt und danach für den Saskatchewan Health Service im Mental Hospital, Battleford. Das Ganze änderte sich, nachdem er von 1950-1975 (bis zu seiner Pension) First Assistant Professor of Psychiatry in Dalhousie wurde und damit einhergehend Einfluss auf die dortigen Einstellungsverfahren be-kam. Er war außerdem Gründungsmitglied und Präsident der Canadian Psychiatric Association (CPA). (v. Stahnisch (2010) S. 41-46).
Abkürzungsglossar
IR Immigration Branch Records
1. Quellen:
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IR, File 54782/4, Blair, Memorandum for file, 20. Januar 1936.
IR, File 54782/5, Blair to Cerar, 12. Oktober 1938.
IR, File 54782/5, Blair to F. N. Sclanders, 13. September 1938.
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Railway Agreement 1925. In. Library and Archives Canada. Library and Archives Canada, “Joint Agreement between Canadian Pacific Railway, Canadian National Railway and Depart-ment relating to Immigration,” R1206-127-4-E, volume 262, file Part 1, 1 September 1925.
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Strutz, Andrea: Auswanderung aus Österreich nach Kanada und erzwungene Flucht, 1923 bis 1945. Wien 2019.
3. Webseiten:
Tab. 1:
https://www150.statcan.gc.ca/n1/pub/11-630-x/11-630-x2016006-eng.htm (letzter download 15.07.2024)