Wer sich über die deutschsprachige Emigration der 1930er Jahre Gedanken macht, wird selten zuerst über Indien als Zielort nachdenken. Als exotisches, weit entferntes und politisch gespaltenes Land, das gerade für Europäer auch klimatisch eine Herausforderung darstellen kann, war Indien erwartbar nicht für jeden Emigranten erste Wahl. Dennoch fanden schätzungsweise allein bis zu 5.000 Juden den Weg auf den Subkontinent, die zu den bereits dort lebenden rund 20.000 Glaubensgenossen hinzukamen. Aus Sicht der Einheimischen waren die Immigranten in Not dabei nicht immer gerne gesehen, so waren sie für viele doch nur weitere Europäer, die wie ihre britischen Unterdrücker stellvertretend als „Zeichen der Fremdherrschaft“ betrachtet wurden (Voigt 1991; 83).
Die Geschichte des Exils in Indien ist untrennbar auch ein Teil der Geschichte der indischen Unabhängigkeitsbewegung. Indien war zu dieser Zeit nämlich genau genommen „Britisch-Indien“ und unterstand somit bereits seit Jahrzehnten der Kolonialmacht des British Empires (→ Verlinkung GB). In den 1930er Jahren stand Britisch-Indien demnach im Zentrum tiefgreifender politischer und sozialer Umwälzungen, die das Ende der kolonialen Herrschaft und den Beginn der Unabhängigkeitsbewegung markierten. Die Dekade war geprägt von einer zunehmenden Mobilisierung der indischen Bevölkerung gegen die britische Kolonialmacht, angeführt von der Nationalen Kongresspartei unter der Führung von Mahatma Gandhi und Jawaharlal Nehru – letzterer sollte 1947 schließlich erster Premierminister des unabhängigen Indiens werden. Als eines der Themen der Stunde mussten sich sowohl die britische Kolonialverwaltung als auch die politischen Anführer der Unabhängigkeitsbewegung mit der Frage nach dem Umgang mit den ankommenden Immigranten beschäftigen. Für letztere entstand dadurch eine Art Dilemma: Zwar hegte man einerseits großes Mitgefühl für die politisch Verfolgten Europäer, andererseits symbolisierte die Kongresspartei allen voran nationale Interessen – das indische Volk hatte Priorität und seine Zukunft sollte deshalb in keinster Weise durch die Unterstützung von Immigranten kompromittiert werden. Zudem hatte sich der Nationalkongress klar „gegen alle britischen Pläne für eine Teilung Palästinas (→ Link) und damit gegen die Schaffung eines jüdischen Staates“ ausgesprochen – Franz spricht gar von einer „anti-jüdische[n] Haltung des Nationalkongresses (Franz 2007; 200). Die Immigrationsfrage erfuhr in diesen Jahren also eine starke politische und gesellschaftliche Aufladung und musste von allen Seiten mit dem nötigen Fingerspitzengefühl behandelt werden.
Bereits Anfang der 1930er Jahre war für die Einreise nach Indien ein Affidavit nötig. Mit weiter ansteigender Zahl der Exilsuchenden und innenpolitisch laut werdender Kritik wurde die Einreise ab September 1938 strikt unter zwei Bedingungen gestattet: Erstens hatte der Antragsteller politisch absolut unbedenklich zu sein und zweitens musste eine bzw. zwei in Indien lebende Person dafür bürgen, dass der Immigrant einen dauerhaften Arbeitsplatz zugesichert bekam und die Staatskasse so zu keiner Zeit belasten würde. Außerdem war durch den Bürgen eine Rückfahrkarte für eine mögliche Ausreise bereitzustellen (Franz 2007; 202). Die gestellten Bedingungen sollten garantieren, dass die Interessen der indischen Nationalbevölkerung weiterhin im Vordergrund stehen können und der Kampf um Unabhängigkeit weiter vorangetrieben werden kann. Tatsächlich wurden diese Bestimmungen für viele Flüchtende zu einer echten Hürde, die dann immerhin dahingehend aufgelockert wurde, als dass auf Druck des Council for German Jewry bald nicht mehr nur Einzelpersonen, sondern auch Gruppen, Unternehmen und das Council selbst als Bürge benannt werden konnten (Franz 2007; 202). Nichts desto trotz war Indien vor allem Ziel für diejenigen, die gewisse beruflich-fachliche Qualifikationen mit sich brachten; so bemerkt auch Margit Franz: „Wer nach Indien einreisen wollte, verfügte meist über gute Netzwerke oder familiäre Anbindungen. Gesucht waren vor allem qualifizierte Fachkräfte aus dem medizinischen oder technischen Bereich. Für Mittellose oder alleinreisende Frauen war es schwierig, nach Indien zu kommen“ (Völlnagel 2023). Qualifizierte Fachkräfte hatten also die besten Chance in Indien Fuß zu fassen und ein neues Leben aufzubauen. Ab November 1938 verbreitete die britische Kolonialveraltung gar offizielle Listen mit Stellenausschreibungen für den indischen Subkontinent (Voigt 1991; 91).
Geografisch verteilten sich die europäischen Ankömmlinge vor allem in den großen Metropolen wie Bangalore, Kalkutta oder Bombay. Die Gründe dafür waren vor allem pragmatischer Natur: Zum einen kam der absolute Großteil der Immigranten mit dem Dampfschiff auf dem Subkontinent an, welches vornehmlich in den großen Hafenstädten Indiens anlegte. Zum anderen war die (infra)strukturelle Anbindung in den Großstädten weitaus günstiger – die Chancen auf Kinderbetreuung, Arbeitsplätze und die Nähe zu den vor allem in Städten sitzenden Hilfsorganisationen waren dabei entscheidende Argumente.
Die vermeintlich bedeutendste Hilfestellung bei der Emigration nach Indien war wohl die Jewish Relief Association, die unter anderen vom Heilbronner Alfred Rosenfeld 1934 in Indien gegründet wurde (Voigt 1991; 89). Rosenfeld selbst befand sich bereits beruflich seit 1928 als Handelsvertreter in Britisch-Indien und initiierte die Hilfsorganisation, als er die zunehmenden Hilferufe jüdischer Immigranten vor Ort bemerkte. Die Unterstützung reichte von der Bereitstellung grundlegender Bedürfnisse wie Nahrung und Kleidung über die Unterstützung bei allen möglichen bürokratischen Angelegenheiten bis hin zur beruflichen und sprachlichen Ausbildung, um den Emigranten eine nachhaltige Zukunft in ihren neuen Heimatländern zu ermöglichen.
Folgende Erhebungen beziehen sich auf die Auswertung der Tabelle Lichmans, die emigrierte Wissenschaftler und Ingenieure zwischen 1933 und 1945 zusammenfasst. Gemäß dieser Daten fanden insgesamt 25 deutsche Personen den Weg in das indische Exil; darunter zwei Frauen.
Emigrationsphasen
13 der 25 Emigranten kamen bereits bis einschließlich 1938 auf dem indischen Subkontinent an. Dabei ist davon auszugehen, dass für diese Personen Indien eine der ersten Stationen ihres Exilverlaufs war. Ein Drittel reiste während der Kriegszeit ein, wohingegen nur vier Personen nach Kriegsende in Indien ankamen; dann als eine weitere von oft vielen Stationen auf ihrem Migrationsweg.
Konfession
Wie zu erwarten wäre, war der Großteil der Immigranten in Indien zwischen 1933 und 1945 jüdischer Abstammung – so auch bei der Gruppe von Wissenschaftlern bzw. Ingenieuren. Für mehr als die Hälfte der Personen ist diese belegt, bei eine Viertel fehlt jegliche konfessionelle Angabe. Dennoch ist davon auszugehen, dass sich die Statistik auch unter Berücksichtigung dieser nicht auswertbarer Personen nicht dramatisch verschieben würde.
Fachgebiete
Die fachliche Aufschlüsselung der nach Indien geflohenen Personen zeigt ein Übergewicht auf akademisch-wissenschaftlicher Seite: Inklusive des medizinischen Bereichs hatten 13 der 25 Emigranten eine Professur an einer deutschen Universität inne. Nur wenige davon hatten dann auch im indischen Exil einen Lehrauftrag; gerade aber den Mediziner bot sich oft die Möglichkeit, ihr Spezialgebiet in indischen Krankenhäusern weiterzuentwickeln.
Station Indiens im Migrationsverlauf
Betrachtet man die jeweilige Station Indiens im Migrationsverlauf der untersuchten Personengruppe, bestätigt sich die oben erwähnte Aussage Franz’: Für 21 der 25 Personen war Indien erste respektive zweite Wahl als Exilland, was dafür spricht, dass in diesen Fällen bereits existierende Verbindungen oder berufliche Möglichkeiten in Aussicht standen und eine Einreise erleichtert werden konnte.
Remigration/weiterer Migrationsverlauf
Keine einzige der 25 hier betrachteten Personen verblieb endgültig in Indien. Zehnmal wählte man früher oder später den Weg der Remigration zurück in das deutsche Sprachgebiet; achtmal waren die Vereinigte Staaten das letzte Ziel der Reise. Die übrigen sieben Fälle verteilen sich in Europa und der Welt.
Im folgenden sollen zwei ausgewählte Einzelbiographien beispielhaft die diversen möglichen Schicksale deutscher Emigranten in Indien darstellen.
Zum einen ist da Max Born (1882-1970), einer der bedeutendsten deutschen Physiker und Mathematiker des 20. Jahrhunderts, der wesentliche Beiträge zur Quantenmechanik und zur Festkörperphysik leistete. Geboren in Breslau, studierte und lehrte er an verschiedenen europäischen Universitäten, darunter Göttingen, wo er gemeinsam mit Werner Heisenberg und anderen Wissenschaftlern die Grundlagen der Quantenmechanik entwickelte. 1933, nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, wurde Born aufgrund seiner jüdischen Abstammung und seiner politischen Ansichten von seiner Professur in Göttingen suspendiert und zur Emigration gezwungen. Nach der Emigration nach Cambridge und dem Entzug der deutschen Staatsbürgerschaft, folgte Born einer Einladung seines Freunds und Kollegen C.V. Raman – seinerseits Nobelpreisträger für Physik 1930 – als Gastprofessor für Physik am Indian Institute of Science in Bangalore zu lehren. Born reiste mit seiner Frau also 1935 nach Indien und nahm gemeinsam mit Raman an der entscheidenden Institutssitzung teil, bei der über die Zusage für eine ordentliche Professur entschieden werden sollte. Born selbst bezeichnete diese Sitzung als „eins der schrecklichsten Erlebnisse, das ich je hatte“ (Born 1975; 371). Die Sitzung verlief alles andere als optimal: Vor allem der englische Fachkollege Aston war der Meinung, Born sei als „,zweitrangiger Ausländer’, den man aus seinem eigenen Land vertrieben habe, für ihr Institut nicht gut genug“ (Voigt 1991; 85). Born wurde dadurch tief getroffen, obgleich er die bisherige gemeinsame Zeit mit seiner Frau in Indien und gerade die außeruniversitären Aktivitäten sehr schätzte (Born 1975; 370). Schließlich reiste das Paar als Folge dieser erwähnten Institutssitzung – sich in Indien alles andere als willkommen fühlend – schon bald wieder zurück nach Großbritannien, wo Born bis 1954 verblieb, bevor er schließlich nach Göttingen remigrierte. Born erhielt im selben Jahr den Nobelpreis für Physik für seine fundamentalen Forschungen zur Quantenmechanik, insbesondere für die statistische Interpretation der Wellenfunktion.
Im Kontrast zu Born kann der Rechts- und Literaturwissenschaftler, Filmkritiker und Schriftsteller Willy Haas (1891-1973) als Beispiel einer beruflich durchaus erfolgreichen Zeit im indischen Exil gesehen werden. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten und der zunehmenden Bedrohung für jüdische Intellektuelle entschied sich Haas, Deutschland zu verlassen. Er fand Zuflucht in Indien, wo er von 1939 bis 1947 lebte. Während seines Exils in Indien arbeitete Haas in verschiedenen literarischen und journalistischen Funktionen. Er war Redakteur einer englischsprachigen Wochenzeitung, wobei er seine journalistischen Fähigkeiten nutzte, um über internationale und lokale Ereignisse zu berichten und die politische Landschaft zu analysieren. Haas' Zeit in Indien war geprägt von einem intensiven kulturellen Austausch und einer Anpassung an die neue Umgebung. Er setzte seine schriftstellerische Arbeit fort und verfasste zahlreiche Essays und Artikel, die das kulturelle Leben und die politischen Entwicklungen in Indien thematisierten. Zudem pflegte er Kontakte zu anderen Exilanten und zu indischen Intellektuellen, was seine Perspektiven und sein Verständnis für die indische Kultur und Gesellschaft vertiefte. Zudem meldete sich Haas freiwillig bei der britischen Armee, wo er als mittlerweile 50-Jähriger zwar keinen Frontdienst mehr leistete, wohl aber im Generalstab beschäftigt war (Voigt 1998; 86). Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kehrte Willy Haas 1948 nach Deutschland zurück und setzte seine Karriere als Schriftsteller und Kritiker fort, wobei er weiterhin eine wichtige Stimme in der literarischen und kulturellen Szene blieb. Seine Erfahrungen im indischen Exil hinterließen einen nachhaltigen Eindruck auf ihn selbst und demnach auch auf sein Werk.
Die Untersuchung der deutschsprachigen Emigration nach Indien in den 1930er Jahren beleuchtet einen wenig beachteten, aber bedeutenden Aspekt der Exilgeschichte. Indien, trotz seiner klimatischen und kulturellen Herausforderungen sowie der politischen Spannungen, bot vielen Emigranten Zuflucht und neue Möglichkeiten. Die damaligen politischen Verhältnisse, geprägt von der Unabhängigkeitsbewegung und der britischen Kolonialherrschaft, schufen eine komplexe Situation für die Aufnahme von Flüchtlingen. Zwar begegnete die einheimische Bevölkerung den europäischen Immigranten oft mit gemischten Gefühlen, dennoch spielte die Unterstützung durch Organisationen wie die Jewish Relief Association eine zentrale Rolle bei deren Integration und Neuanfang. Zusammenfassend zeigt sich, dass die Emigration nach Indien nicht nur ein Weg des Überlebens für viele Juden und Intellektuelle war, sondern in einigen Fällen auch positiver Anreiz für kulturellen Austausch und Bereicherung war.
Bhatti, Anil; Voigt, Johannes (Hrsg.): Jewish Exile in India 1933-1945. Neu Delhi 1998.
Born, Max: Mein Leben. Die Erinnerungen des Nobelpreisträgers. München 1975.
Framke, Maria: Indien als Zufluchtsort für jüdische NS-Flüchtlinge: Flucht, Antikolonialismus, und humanitäre Solidarität in der Zwischenkriegszeit. In: IZSAF (3) 2018, S. 92-104.
Franz, Margit: „Passage to India“: Österreichisches Exil in Britisch-Indien 1938-1945. In: DÖW (Hrsg.): Jahrbuch 2007. Wien u.a. 2007, S. 196-223.
Franz, Margit: Gateway India. Deutschsprachiges Exil in Indien zwischen britischer Kolonialherrschaft, Maharadschas und Gandhi. Graz 2015.
Krohn, Claus-Dieter (Hrsg.): Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933 – 1945, Darmstadt 1998.
Voigt, Johannes: Die Emigration von Juden aus Mitteleuropa nach Indien während der Verfolgung durch das NS-Regime. In: Wechselwirkungen. Jahrbuch 1991. Aus Lehre und Forschung der Universität Stuttgart. S. 83 ff.
Ders.: Indien. In: Claus-Dieter Krohn (Hrsg.): Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933 – 1945, Darmstadt 1998, Sp. 270-275.
Ders.: Indien im Zweiten Weltkrieg (= Studien zur Zeitgeschichte 11). Stuttgart 1978.
Internetquellen
Max Born Institute: The Life of Max Born. In: https://mbi-berlin.de/about-mbi/history/max-born
Völlnagel, Iris: Auf der Flucht vor den Nazis. Indien war kein einfaches Exilland für jüdische Flüchtlinge. In: https://www.migazin.de/2023/01/25/auf-flucht-nazis-indien-exilland/ [abgerufen am 03. Juli 2024]
Dies.: Rund 5.000 Juden flohen vor der Schoah nach Indien. In: https://www.migazin.de/2023/01/25/historikerin-margit-franz-rund5-juden/ [abgerufen am 03. Juli 2024]