Projektleiter: Prof. Dr. Joachim Bahlcke
Der schlesisch-württembergische Botaniker und Phytomediziner Oskar von Kirchner wirkte beinahe vierzig Jahre an der Landwirtschaftlichen Akademie und späteren Hochschule Hohenheim und forschte auf ganz unterschiedlichen Fachgebieten. So galt sein Interesse zum einen der Algenflora in Schlesien und Württemberg, zum anderen der Erforschung und Bekämpfung von Pflanzenkrankheiten, der Förderung des Pflanzenschutzes sowie der Samenprüfung von landwirtschaftlichen Kulturpflanzen. Ein weiteres wichtiges Forschungsgebiet war für Kirchner die Blütenbiologie, welche die wechselseitige Anpassung von Blüten und Insekten untersucht und sich im 19. Jahrhundert besonders durch Charles Darwins bestäubungsökologische Arbeiten zu einem eigenständigen Fachgebiet entwickelte. In Württemberg und Hohenzollern erreichte Kirchner vor allem breitere Bekanntheit durch die Untersuchung der Flora von Württemberg und Hohenzollern und sein Engagement in damaligen „Verein für vaterländische Naturkunde in Württemberg“. Zudem veröffentlichte er zahlreiche Werke, die im populärwissenschaftlichen Bereich anzusiedeln sind und teilweise mehrere Auflagen erlebten. Sein vielfältiges Wirken und seine wissenschaftsorganisatorische Tätigkeit sind in der Forschungsliteratur bisher lediglich randständig behandelt worden. Die historisch-kritische Edition der bisher unveröffentlichten Lebenserinnerungen Kirchners wirft ein neues Licht auf dessen Wirken und stellen eine wichtige Quellengrundlage für dieses Dissertationsprojekt dar. Die autobiographischen Aufzeichnungen bieten darüber hinaus wichtige neue Forschungsimpulse für die historische Schlesienforschung, besonders zur Wissenschaftsgeschichte im naturwissenschaftlichen Milieu des Oderlandes.
Kirchner wandte sich als studierter Philologe der Botanik in einer Zeit zu, in der sich die Landbauwissenschaften professionalisierten und sich die landwirtschaftliche Ausbildung zunehmend akademisierte. Mit der Landwirtschaftlichen Akademie Proskau in Oberschlesien und der Landwirtschaftlichen Akademie Hohenheim in Württemberg wirkte Kirchner gleich an zwei bedeutenden Einrichtungen, die an diesem Prozess maßgeblich beteiligt waren. Als besonderer Verdienst kommt Kirchner zu, die Entwicklung der im 19. Jahrhundert entstehenden Phytopathologie als Teildisziplin der Angewandten Botanik maßgeblich mitgestaltet zu haben. Das Dissertationsprojekt untersucht als Fallstudie grundlegende Fragen der fachlichen Sozialisation, der Netzwerkbildung und der Rezeption eines Botanikers im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Die autobiographischen Aufzeichnungen Kirchners sind in diesem Zusammenhang eine wertvolle Quellengrundlage, die bisher noch kaum ausgewertet wurden. Kirchners eigene Wahrnehmung als angewandter Botaniker soll dabei mit dessen Fremdwahrnehmung durch andere Botaniker und Naturwissenschaftler gegenübergestellt werden. Die Rezensionen seiner Veröffentlichungen, dessen Korrespondenzen sowie Briefe andere Naturwissenschaftler sind hierfür ein wichtiger Anhaltspunkt.
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Joachim Bahlcke: Calvinismus im östlichen Europa. Entwicklungslinien des reformierten Typus der Reformation vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. In: Ansgar Reiß/Sabine Witt (Hg.): Calvinismus. Die Reformierten in Deutschland und Europa. Ausstellungskatalog. Dresden 2009, 196-203. Ders./Arno Strohmeyer (Hg.): Konfessionalisierung in Ostmitteleuropa. Wirkungen des religiösen Wandels im 16. und 17. Jahrhundert in Staat, Gesellschaft und Kultur. Stuttgart 1999 (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa 7).Hans-Jürgen Bömelburg: Die polnisch-litauischen Magnaten als imperiales Personal und übergreifende Herrschaftselite. In: Stephan Wendehorst (Hg.): Die Anatomie frühneuzeitlicher Imperien. Herrschaftsmanagement jenseits von Staat und Nation: Institutionen, Personal und Techniken. Berlin 2015, 195-210.Karin Friedrich: Noble power brokerage in the Polish-Lithuanian Commonwealth: the case of Bogusł aw Radziwiłł (1620-1669). In: Miscellanea res Polonorum, Brittanorum ac Judaeorum illustrantia (2015), 13-26.Jörg Jacoby: Boguslaus Radziwill. Der Statthalter des Großen Kurfürsten in Ostpreußen Marburg/Lahn 21960 [11959] (Wissenschaftliche Beiträge zur Geschichte und Landeskunde Ost-Mitteleuropas 40).Deimantas Karvelis/Raimonda Ragauskienė (Hg.): Iš Radvilų giminės istorijos: Dubingių kunigaikštystė 1547-1808 m. Vilnius 2009.Kriegseisen, Wojciech: Die Protestanten in Polen-Litauen (1696-1763). Rechtliche Lage, Organisation und Beziehungen zwischen den evangelischen Glaubensgemeinschaften. Hg. v. Joachim Bahlcke und Klaus Ziemer. Wiesbaden 2011 (Jabloniana. Quellen und Forschungen zur europäischen Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit 2).Ingė Lukšaitė: Reformacijos Lietuvoje raida ir evangelikų bažnyčių istorija XVI–XVIII a. In: Arthur Hermann (Hg.): Lietuvos evangelikų bažnyčios. Istorijos metmenys. Vilnius 2003, 19–162.Mathias Niendorf (Hg.): Das Großfürstentum Litauen. Studien zur Nationsbildung in der Frühen Neuzeit (1569-1795). Wiesbaden 2006 (Veröffentlichungen des Nordost-Instituts 3).Edward Potkowski (Hg.): Radziwiłłowie XVI-XVIII wieku: w kregu polityki i kultury. In: Miscellanea historico-archivistica 3 (1989), 115-135.Stanisław Salmonowicz: Königliches Preußen und polnisch-litauischer Staat (1466-1772). In: Dietmar Willoweit/Hans Lemberg (Hg.): Reiche und Territorien in Ostmitteleuropa. Historische Beziehungen und politische Herrschaftslegitimation. München 2006, 81-92.